Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
Auf dem Weg dorthin versuchte er mehrmals Ranieri anzurufen. Doch es meldete
sich immer sofort die Sprachbox des Handys. Das bedeutete, dass der Commissario
das Gerät abgeschaltet hatte.
Da die Osteria
da Marcello etwas höher lag und nur über zwei Stufen zu erreichen war, hatte das
harmlose Hochwasser heute Morgen keinerlei Schaden im Lokal angerichtet. Marcello
war in ausgesprochen guter Stimmung und schenkte Lupino und sich ein Gläschen Ribolla
Gialla ein. Dann stieß er mit Lupino an und gratulierte ihm, dass er den ›Venedig-Ripper‹
gefunden habe. Lupino war überrascht. Eigentlich empfand er das nicht so sehr als
seinen eigenen Verdienst, schließlich hatte Philipp Mühleis die entscheidende Idee
mit den Vergoldern und Rahmenmachern gehabt. Aber immerhin: In seinem Wohnviertel
in San Polo war er nun der Held, wie Luciana, die zuvor in der Küche Gino geholfen
hatte, jedem bereitwillig erzählte. Als Gino sich zu Marcello und Lupino an die
Bar setzte und auch ein Gläschen Ribolla Gialla trank, prostete er Lupino zu:
»All’ er…eroe
… d…della Ser… Sere…nissima … [57] «
Ein Trinkspruch,
der Lupino verlegen machte und der den Koch ob seines gelungenen Zynismus zufrieden
grinsen ließ. Luciana ärgerte Ginos Spott. Demonstrativ lehnte sie sich zu
Lupino hinüber und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Dann wies sie
Gino zurecht, dass er sich über Lupino nicht lustig zu machen habe. Mit verärgertem
Tonfall schickte sie Gino in die Küche zurück. Er solle gefälligst weiter arbeiten
und nicht im Lokal Wein saufen. Grummelnd verschwand Gino in seinem Reich, nicht
ohne dabei halblaut zu spotten:
»Il
g… g… grande amore …«
Trotz der Vertrautheit, die mittlerweile
zwischen Luciana und Lupino entstanden war, schlief sie nicht jede Nacht bei ihm.
Da sie ihre eigene Wohnung nicht aufgeben wollte, verbrachte sie zwei bis drei Abende
pro Woche bei sich zu Hause, um Ordnung zu machen, Wäsche zu waschen und allerlei
häuslichen Verrichtungen nachzugehen. Dieser Abend war so einer, und Lupino ging
allein nach Hause. Da er ziemlich aufgekratzt von den Ereignissen des Tages war,
schlief er hundsmiserabel. Immer wieder wachte er auf, geplagt von wirren Träumen
und der Vorstellung, dass er selbst dort unten in dem Kellerloch im eiskalten Wasser
schwimmen musste. Schließlich brachte er kurz nach sechs Uhr morgens kein Auge mehr
zu. Ständig ging ihm durch den Kopf, dass gestern irgendetwas Gravierendes geschehen
war. Sonst hätte sich Ranieri bei ihm gerührt oder wäre zumindest erreichbar gewesen.
Verschlafen und übellaunig kroch er aus dem Bett, schlurfte in die Küche und füllte
Wasser und Kaffeepulver in den unteren Teil der Espressomaschine, schraubte sie
zusammen, stellte sie auf die Herdflamme und wartete, bis es blubberte. Dabei stellte
er fest, dass das Kaffeepulver, das er gerade verbraucht hatte, das letzte in der
ganzen Wohnung war. Es gab fast nichts mehr: keine Milch, keinen Zucker, kein Brot,
keine Butter, keinen Prosciutto, kein Stückchen Grana, nichts. Er musste wieder
einmal einkaufen gehen! Zum Kaffee fand er ein paar alte, eingetrocknete Kekse,
an denen er lustlos knabberte. Und während er kekskauend in den trüben Morgen hinausstarrte,
wurden plötzlich Erinnerungen aus seiner Kindheit und Jugend hochgespült. Als Ludovico
Ranieri als Neuer in seine Klasse kam und zuerst von allen angefeindet wurde, weil
er nicht das weiche Venezianisch, sondern ein merkwürdig neutral klingendes Italienisch
sprach. Außerdem war er so anders als alle anderen Kinder in der Klasse. Da Ludovicos
Vater ein international angesehener Kunstmanager war, hatte die Familie zuerst in
den Niederlanden und danach in Deutschland gewohnt. Als Lupino bemerkte, dass Ludovico
ganz passabel Deutsch sprach, freundeten sie sich allmählich an. Wenn sie unter
sich waren, sprachen sie Deutsch, und auch in der Bubenbande, der beide angehörten,
verständigten sie sich oft auf Deutsch. Lupino schenkte sich noch eine Schale Kaffee
ein und erinnerte sich, wie sie als San Polo-Bande mit Fahrrädern ihren und den
Nachbarbezirk Dorsoduro unsicher gemacht hatten. Ausgerüstet mit Blasrohren und
Plastilinkugeln lieferten sie sich erbitterte Gefechte mit den im Dorsoduro heimischen
Jugendlichen. Mit ihren kleinen, wendigen Fahrrädern waren sie damals über alle
Stiegen der Brücken hinauf- und wieder hinuntergeradelt. Mein Gott, Fahrräder …
Schon lange hatte er keine Kids mit Fahrrädern mehr
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