Qual (German Edition)
hatte einen Sessel für sich gefunden und sich in einer Ecke mit zwei auf dem Boden ausgebreiteten Decken ein Bett gebaut. Der Raum war inzwischen etwas wärmer, aber eine gewisse Grundkälte war noch immer spürbar. Sie sickerte aus den Wänden und blies unter der Tür hindurch.
Er würde darauf achten müssen, dass der Kleine immer gut eingemummelt war.
Blaze schlüpfte in seine Jacke und ging hinaus, zuerst die Straße hinunter zur Kette. Er spannte sie wieder über die Fahrbahn und stellte erfreut fest, dass das Schloss, obwohl es längst kaputt war, immer noch hielt. Man musste mit der Nase praktisch direkt darauf stoßen, um erkennen zu können, dass es nicht mehr in Ordnung war. Dann kehrte er zu dem zerstörten Haupttor zurück. Hier lehnte er die großen Teile so gut es eben ging wieder an. Es sah ziemlich beschissen aus, aber wenn er die Einzelteile so tief wie nur möglich in den Schnee rammte (inzwischen schwitzte er ordentlich), dann standen sie wenigstens senkrecht. Und verdammt – wenn jemand so nahe kam, dann steckte er ohnehin in Schwierigkeiten. Er war dumm, aber nicht so dumm.
Bei seiner Rückkehr war Joe wach und schrie aus vollem Hals. Das jagte Blaze jetzt nicht mehr solche Angst ein wie anfangs. Er zog dem Jungen seine kleine Jacke an (grün – und sehr niedlich), dann setzte er ihn auf den Boden, wo er herumkrabbeln konnte. Während Joe versuchte zu kriechen, öffnete Blaze eine Rindfleisch-Mahlzeit. Er fand den verfluchten Löffel einfach nicht – am Ende würde er wahrscheinlich wieder auftauchen, so war’s ja bei den meisten Sachen –, also fütterte er den Kleinen mit dem Finger. Er war begeistert, als er fühlte, dass Joe während der Nacht einen weiteren Zahn bekommen hatte. Damit waren es dann schon drei.
»Tut mir leid, dass es kalt ist«, sagte Blaze. »Wir lassen uns was einfallen, okay?«
Joe machte es nichts aus, dass sein Abendessen kalt war. Er aß gierig. Nachdem er fertig war, fing er vor lauter Bauchschmerzen
an zu weinen. Blaze erkannte inzwischen den Unterschied zwischen Bauchweh-Weinen, Zahnen-Weinen und Ich-bin-müde-Weinen. Er legte Joe an seine Schulter und ging mit ihm durch den Raum, massierte dabei seinen Rücken und redete leise auf ihn ein. Als er immer noch nicht aufhörte zu weinen, ging Blaze mit ihm den kalten Korridor hinauf und hinunter, immer noch sanft und beruhigend auf ihn einredend. Jetzt weinte Joe nicht nur, jetzt fing er auch noch an zu zittern, also wickelte Blaze ihn in eine Decke und klappte den Zipfel wie eine Kapuze über Joes Kopf.
Er stieg die Treppe ins zweite Obergeschoss hinauf und ging in Raum 7, wo er und Martin Coslaw sich beim Rechnen zum ersten Mal begegnet waren. Es waren noch drei Pulte da, aufgestapelt in einer Ecke. Auf dem einen, fast verborgen von dem Geflecht später hinzugefügter Graffiti (Herzen, männliche und weibliche Geschlechtsteile, Kommentare zum Blasen und zu anderen Praktiken), sah er die Initialen CB, geschrieben in seiner eigenen sorgfältigen Blockschrift.
Verdutzt zog er einen Handschuh aus und ließ seine Finger über die alten geschnitzten Buchstaben gleiten. Ein Junge, an den er sich kaum noch erinnerte, war vor ihm hier gewesen. Es war unglaublich. Und auf eine merkwürdige Art ließ ihn das an Vögel denken, die allein und traurig auf Telefondrähten saßen. Die Schnitte waren alt, der Schaden am Holz von der Zeit geglättet. Das Holz hatte sie akzeptiert, hatte sie zu einem Teil von sich gemacht.
Er meinte, ein leises Lachen hinter sich zu hören, und wirbelte herum.
»George?«
Keine Antwort. Das Wort verklang wie ein Echo, kehrte dann zurück. Es schien ihn zu verhöhnen. Es schien zu sagen, es gibt keine Million, es gibt nur diesen Raum hier. Diesen Raum, in dem man ihn damals in Verlegenheit gebracht und ihm Angst eingeflößt hatte. Diesen Raum, in dem er am Lernen gescheitert war.
Joe rührte sich an seiner Schulter und nieste. Seine Nase war gerötet. Er fing an zu weinen. Das Geräusch klang zart in dem kalten und leeren Gebäude. Die feuchten Ziegelwände schienen es aufzusaugen.
»So«, gurrte Blaze. »Alles in Ordnung, nicht weinen. Ich bin bei dir. Alles in Ordnung. Dir geht’s gut. Mir geht’s gut.«
Das Baby zitterte wieder, und Blaze beschloss, es zurück ins Büro vom Richter zu bringen. Er würde ihn neben dem Kamin in seine Wiege legen. Mit einer zusätzlichen Decke.
»Alles in Ordnung, kleiner Liebling. Alles gut. Alles bestens. «
Aber Joe weinte, bis er erschöpft
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