Qual
schneller, violetter Sonnenuntergang, metallisch und fleckig – dann schaltete ich auf einen Streckenplan, während wir in nordöstlicher Richtung weiterflogen, knapp außerhalb Sichtweite von Neuseeland. Ich dachte an die Raumsonden, die eine Schleife um die Venus flogen, um zum Jupiter zu gelangen. Es war, als müßten wir diesen langen Umweg fliegen, um ausreichend Geschwindigkeit zu gewinnen – als würde sich Stateless zu schnell bewegen, um auf direktem Weg erreicht werden zu können.
Eine Stunde später kam die Insel endlich vor uns in Sicht – wie ein blasser, gestrandeter Seestern. Sechs Arme senkten sich von einem Zentralplateau herab; an den Seiten ging grauer Fels allmählich in Korallenbänke über, die sich von einer Masse solider Auswüchse zu einem feinen Gespinst ausdünnten, das kaum die Wasseroberfläche durchstieß. Ein blaßblaues biolumineszierendes Leuchten zeichnete die verschlungenen Ränder der Riffs nach, die wiederum von einer Abfolge anderer Farbtönungen umgeben waren – wie die farbcodierten Tiefenzonen einer lebenden nautischen Karte. Ein kleiner Schwarm aus blinkenden orangefarbenen Glühwürmchen drängte sich in der nächstgelegenen Achselhöhle des Seesterns. Ob es Boote waren, die im Hafen vor Anker lagen, oder etwas Exotischeres, konnte ich nicht erkennen.
Auf dem Land deuteten Lichtsprenkel einen ordentlichen Stadtplan an. Ich fühlte plötzlich Unbehagen. Stateless war so schön wie ein Atoll, so spektakulär wie ein Kreuzfahrtschiff… doch ohne deren beruhigenden Eigenschaften. Wie konnte ich darauf vertrauen, daß dieses bizarre Artefakt nicht einfach im Meer versank? Ich war es gewohnt, auf solidem, Milliarden Jahre altem Fels zu stehen oder mich mit Maschinen fortzubewegen, deren Ausmaße für einen Menschen nachvollziehbar waren. Noch vor wenigen Jahren war diese Insel nicht mehr als eine Wolke aus Mineralien gewesen, die sich über den halben Pazifik verteilt hatte – und vor diesem Hintergrund schien es mir nicht unvorstellbar, daß der Ozean jeden Moment durch tausend unsichtbare Poren und Ritzen eindringen konnte, um alles wieder aufzulösen und zurückzufordern.
Doch während wir niedergingen, breitete sich das Land rings um uns aus, Straßen und Gebäude wurden sichtbar, und meine Unsicherheit ließ nach. Eine Million Menschen hatten diesen Flecken zu ihrer Heimat gemacht und vertrauten ihr Leben seiner Solidität an. Wenn es menschenmöglich war, dieses Wunder nicht untergehen zu lassen, dann hatte ich nichts zu befürchten.
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10
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Das Flugzeug leerte sich langsam. Die Passagiere drängten schläfrig und gereizt nach vorn. Viele klammerten sich an Kissen und kleine Decken und sahen aus wie Kinder, die zu lange aufgeblieben waren. Hier war es erst neun Uhr abends – und die biologischen Uhren der meisten Leute waren damit vermutlich einverstanden – aber wir waren alle noch benommen, verkrampft und erschöpft. Ich schaute mich nach Indrani Lee um, konnte sie in der Menge aber nirgendwo entdecken.
Am Ende des Tunnels gab es eine Sicherheitskontrolle, aber es war kein Flughafenpersonal zu sehen und auch kein sichtbares Gerät zur Abfrage meines Passes. Für Stateless gab es keine Einreisebeschränkungen und schon gar nicht für vorübergehende Besucher – aber man hatte bestimmte Importe verboten. Neben dem Durchgangstor befand sich ein mehrsprachiges Schild, auf dem stand:
Versuchen Sie ruhig, Waffen mitzubringen.
Wir werden versuchen, sie zu vernichten.
DAS SYNDIKAT DES FLUGHAFENS VON STATELESS
Ich zögerte. Wenn mein Paß nicht gescannt wurde und man die Genehmigungen für meine Implantate nicht berücksichtigte… was würde die Maschine mir dann antun? Hardware im Wert von hunderttausend Dollar verbrennen – und dabei gleichzeitig einen größeren Teil meines Verdauungssystems braten?
Ich wußte, daß ich unter Paranoia litt, denn ich war kaum der erste Journalist, der seinen Fuß auf die Insel setzte. Und die Botschaft galt vermutlich Besuchern von gewissen südamerikanischen Inseln im Privatbesitz – ›libertären Refugien‹, die in den Zwanzigern von selbsternannten ›politischen Flüchtlingen‹ vor der Reform der US-amerikanischen Waffengesetze gegründet worden waren – und von denen schon einige bei diversen Gelegenheiten versucht hatten, Stateless von ihrer speziellen Lebenseinstellung zu überzeugen.
Trotzdem hielt ich mich mehrere Minuten lang im Hintergrund, während ich hoffte, daß jemand in
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