Qual
Patentrezepte für die verrücktesten ›wissenschaftlichen‹ Utopien und Gesellschaftsentwürfe kennengelernt, die auf angeblichen ›rationalen‹ Prinzipien beruhten… aber dies war das erste Mal, daß jemand die Vielfalt im gleichen Atemzug mit biologischen Kräften befürwortete. Statt die Soziobiologie dazu einzusetzen, eine bestimmte politische Doktrin zu rechtfertigen, die von oben aufoktroyiert wurde – wie es vom Marxismus bis zur Familie als Kern der Gesellschaft, von der Rassenreinheit bis zur Geschlechtertrennung verkündet worden war – »wir müssen so leben, weil die menschliche Natur es verlangt«… statt dessen schlug Munroe vor, daß die Menschen die Selbsterkenntnis über ihre Spezies dazu benutzen konnten, bessere Entscheidungen für ihr eigenes Leben zu treffen.
Aufgeklärte Anarchie. Diese Vorstellung war sehr reizvoll, aber ich fühlte mich trotzdem zur Skepsis verpflichtet. »Nicht jeder dürfte damit einverstanden sein, daß seine Kinder in Soziobiologie unterrichtet werden. Selbst hier gibt es bestimmt ein paar kulturelle und religiöse Fundamentalisten, die davor Angst hätten. Und… was ist mit erwachsenen Einwanderern? Wenn jemand zum Zeitpunkt seiner Ankunft auf Stateless zwanzig Jahre alt ist, wird er die nächsten sechzig Jahre hier verbringen. Das ist viel Zeit, um jeden Idealismus zu verlieren. Glauben Sie wirklich, daß die Gesellschaft zusammengehalten werden kann, wenn die erste Generation alt und desillusioniert geworden ist?«
Munroe schien amüsiert. »Spielt es eine Rolle, was ich glaube? Wenn Ihnen wirklich etwas daran liegt, erkunden Sie die Insel, reden Sie mit den Leuten, machen Sie sich ihr eigenes Bild.«
»Sie haben recht.« Allerdings war ich nicht hergekommen, um die Insel zu erkunden oder mir eine Meinung über ihre politische Zukunft zu bilden. Ich blickte auf die Uhr – es war kurz nach eins – und stand auf.
Munroe sagte: »In diesem Augenblick geschieht etwas, das Sie sich vielleicht gerne ansehen würden. Oder sogar… ausprobieren möchten. Haben Sie es eilig?«
Ich zögerte. »Es käme darauf an.«
»Es handelt sich dabei um etwas, das einer Empfangszeremonie für neue Bewohner recht nahe kommt.« Als ich offenbar nicht sehr begeistert aussah,lachte Munroe. »Keine Hymnen, keine Eide, keine vergoldeten Urkunden, das verspreche ich Ihnen. Und es ist nicht obligatorisch, um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen. Es sieht nur so aus, als wäre es zu einer Mode geworden, Neuankömmlinge auf diese Weise zu begrüßen. Auch einfache Touristen sind willkommen.«
»Werden Sie es mir verraten oder muß ich mutmaßen?«
»Ich kann Ihnen verraten, daß es als Inseltauchen bezeichnet wird. Aber Sie müssen es sehen, um zu verstehen, was das bedeutet.«
Munroe packte seine Staffelei ein und begleitete mich. Ich vermutete, daß es ihm insgeheim Spaß machte, den abgeklärten Reiseführer zu spielen. Wir standen in der Tür, um uns den Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen, während die Straßenbahn zum nördlichen Arm der Insel unterwegs war. Das Gleis vor uns war kaum zu erkennen – zwei parallele Rillen im Fels, dazwischen das graue Band des Supraleiters, der jedoch unter einer Schicht aus feinem Kalkstaub verborgen war.
Nach etwa fünfzehn Kilometern waren wir die letzten Passagiere. »Wer bezahlt für die Wartung dieser Bahn?« fragte ich.
»Zum Teil wird sie über die Fahrkarten finanziert. Den Rest schießen die Syndikate zu.«
»Und was geschieht, wenn ein Syndikat beschließt, sich nicht zu beteiligen? Um von den anderen zu schmarotzen?«
»Dann weiß jeder Bescheid.«
»Gut, aber was ist, wenn das Syndikat es sich wirklich nicht leisten kann? Wenn es verarmt ist?«
»Die finanziellen Verhältnisse der meisten Syndikate werden veröffentlicht. Man betrachtet es als verdächtig, wenn jemand ein Geheimnis daraus macht. Jeder auf Stateless könnte es mit seinem Notepad feststellen, wenn sich das Vermögen der Insel auf ein Syndikat konzentrieren oder wenn es in Taschen außerhalb der Insel abfließen würde. Dann könnte jeder die Maßnahmen ergreifen, die er für richtig hält.«
Wir hatten inzwischen das bebaute Zentrum verlassen. Entlang der Straßenbahnlinie standen nur noch vereinzelte Gebäude, die nach Fabriken und Lagerhäusern aussahen. Immer mehr blanker Riff-Fels trat an die Oberfläche. Er war im allgemeinen flach, wies aber leichte Unebenheiten auf. Der Kalkstein trat in allen Varianten auf, die ich auch in der Stadt gesehen
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