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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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die Leute hier verhalten sich einfach so, wie sie es in diesen Gesellschaftsformen tun würden?«
    »Ja, aber es geht noch viel tiefer. Die meisten Leute schließen sich Syndikaten an, die genau diese Gesellschaftsformen repräsentieren. Die Menschen wollen sich frei entscheiden können, aber sie erwarten auch einen gewissen Grad von Stabilität. Also treten sie einem Abkommen bei, das ihnen einen Rahmen vorgibt, in dem sie ihr Leben organisieren können. Natürlich können sie jederzeit wieder austreten. Aber schließlich ist auch in den meisten Demokratien die Auswanderung erlaubt. Wenn sechzigtausend Menschen in einem Syndikat sich bereit erklären, einen Teil ihres Einkommens – das sie offenlegen müssen – in einen Fond einzuzahlen, derfür Gesundheit, Bildung und soziale Zwecke verwendet wird, wobei die Anteile in allen Einzelheiten von Komitees aus gewählten Delegierten bestimmt werden, dann haben sie vielleicht kein Staatsoberhaupt und kein Parlament, aber mich erinnert es trotzdem sehr stark an eine sozialistische Demokratie.«
    »Also ist eine frei gewählte ›Regierung‹ nicht verboten«, sagte ich. »Aber insgesamt sind Sie doch Anarchisten, nicht wahr? Gibt es hier keine allgemeingültigen Gesetze, an die sich jeder halten muß?«
    »Es gibt eine Handvoll Prinzipien, denen eine große Mehrheit der Bevölkerung zugestimmt hat. Grundsätzliche Vorstellungen der Freiheit von Gewalt oder Nötigung. Sie werden allgemein unterstützt, und wer sich damit nicht einverstanden erklären kann, sollte liebernicht hierher kommen. Allerdings will ich keine Haarspaltereien betreiben, denn man könnte durchaus von Gesetzen sprechen.
    Sind wir nun Anarchisten oder nicht?« Munroe zuckte in gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Das Wort Anarchie bedeutet >kein Herrscher< und nicht ›keine Gesetze‹… aber niemand auf Stateless bereitet sich schlaflose Nächte, um über altgriechische Semantik nachzugrübeln – oder über die Schriften von Bakunin, Proudhon oder Godwin. Entschuldigung, ich muß mich korrigieren: In Beijing oder Paris dürfte sich etwa der gleiche Prozentsatz der Bevölkerung leidenschaftlich mit diesen Themen auseinandersetzen. Aber Sie müssen schon diese speziellen Leute interviewen, wenn Sie ihre Meinungen hören wollen.
    Ich persönlich finde, daß dieses Wort zuviel historischen Ballast mit sich herumträgt, um es noch sinnvoll weiterverwenden zu können. Es wäre kein großer Verlust. Die meisten anarchistischen Bewegungen aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert haben sich – genauso wie die Marxisten – an der Frage verzettelt, wie die Macht von der herrschenden Klasse übernommen werden soll. Auf Stateless wurde dieses Problem auf denkbar einfache Weise gelöst. Im Jahr 2025 brannten sechs Angestellte einer kalifornischen Biotechnik-Firma namens EnGeneUity mit allen nötigen Informationen durch, um den Keim zu legen. Vieles davon war ihre eigene Arbeit, in Grunde sogar ihr geistiges Eigentum. Außerdem nahmen sie einige manipulierte Zellen aus verschiedenen Kulturen mit, aber nur so wenig, daß der Diebstahl nicht bemerkt wurde. Bevor irgend jemandem auffiel, daß Stateless wuchs, arbeiteten hier bereits einige hundert Leute in abwechselnden Schichten, und es hätte keinen guten Eindruck in der Öffentlichkeit gemacht, hier alles ohne Federlesens zu sterilisieren.
    Das war unsere ›Revolution‹. Besser als mit Molotow-Cocktails zu hantieren.«
    »Nur daß Sie jetzt wegen des Diebstahls einen Boykott am Hals haben.«
    Munroe hob die Schultern. »Das Embargo ist eine böse Sache – aber immer noch besser als die Alternative: eine Firmeninsel, von der jeder Quadratmeter in Privatbesitz ist. Es ist schon schlimm genug, wenn für jede vernünftige Nutzpflanze des Planeten Lizenzgebühren anfallen. Stellen Sie sich mal vor, es wäre genauso mit dem Boden unter Ihren Füßen.«
    »Gut«, sagte ich. »Also hat die Technik Ihnen die Möglichkeit zur problemlosen Verwirklichung einer neuen Gesellschaft gegeben, während alle alten Modelle keine Rolle mehr spielen. Keine Invasion, kein Völkermord, kein blutiger Aufstand, keine quälend langsamen demokratischen Reformen. Doch der Anfang ist leicht. Ich verstehe immer noch nicht, was diese Insel zusammenhält.«
    »Kleine wirbellose Organismen.«
    »Ich meinte politisch.«
    Munroe schien verwirrt. »Wogegen soll die Insel zusammengehalten werden? Gegen den Ansturm derAnarchie?«
    »Gegen Gewalt, Plünderungen, die Herrschaft des

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