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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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aus einer langen hektischen Versammlung gekommen und der Gesellschaft der anderen überdrüssig geworden, könnten sich andererseits aber auch nicht dazu überwinden, die Diskussion ruhen zu lassen. Ich näherte mich, und als sie mich sah, hob sie die Hand zum Gruß.
    »Ich habe Sie auf dem Weiterflug verpaßt«, sagte ich. »Haben Sie sich bereits eingelebt?«
    »Ja, sehr gut.« Sie wirkte glücklich und zufrieden. Offensichtlich wurde die Konferenz ihren Erwartungen gerecht. »Aber Sie sehen gar nicht gut aus.«
    Ich lachte. »Haben Sie in Ihrer Studienzeit niemals erlebt, daß Sie in einer Prüfung sitzen und alle Fragen auf dem Papier mit den Fragen, auf die Sie sich bis zum Morgengrauen vorbereitet haben, so wenig gemeinsam hatten, daß sie allem Anschein nach zu zwei völlig unterschiedlichen Fachgebieten gehören?«
    »Einige Male. Aber was hat zu diesem Déjà-vu-Erlebnis geführt? Fühlen Sie sich von der Mathematik überfordert?«
    »Das auch, aber das ist nicht das eigentliche Problem.« Ich blickte mich in der Lobby um. Zwar konnte uns niemand hören, aber ich wollte nicht unbedingt die Gerüchte um Mosala fördern, wenn es sich vermeiden ließ. »Sie wirkten, als hätten Sie es eilig«, sagte ich. »Vielleicht sollte ich Sie mit meinen Sorgen lieber auf dem Rückflug nach Phnom Penh langweilen.«
    »Eilig? Nein, ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen. Wenn Sie gerade nichts Besseres vorhaben, sind Sie natürlich herzlich eingeladen, mich zu begleiten.«
    Ich nahm das Angebot dankbar an. Ich hatte eigentlich etwas essen wollen, aber ich hatte immer noch keinen richtigen Appetit. Außerdem war mir der Gedanke gekommen, daß Lee vielleicht einige berufliche Einsichten in die technolibération gewonnen hatte, die sie mir möglicherweise anvertrauen würde.
    Doch als wir durch die Tür traten, erkannte ich, was sie in Wirklichkeit mit ›frische Luft schnappen‹ gemeint hatte. Die Mystische Renaissance hatte sich zu einem Auftritt entschlossen und belagerte die Straße vor dem Hotel. Die Transparente verkündeten: ERKLÄREN HEISST ZERSTÖREN! EHRFURCHT VOR DEM NUMEN! UT – NEIN DANKE! T-Shirts zeigten die Gesichter von Carl Jung, Pierre Teilhard de Chardin, Joseph Campbell, Fritjof Capra, Günter Kleiner, den verstorbenen Gründer des Kults, und den Ereigniskünstler Sky Alchemy – und sogar Einstein, wie er die Zunge herausstreckte.
    Niemand intonierte Slogans. Nach Janet Walshs Salve der Konfrontation begnügte sich die Mystische Renaissance mit einem karnevalistischen Aufgebot – es tummelten sich Pantomimen, Feuerschlucker, Handleser und Tarot-Kartenleger. Fackeln wirbelten durch die Luft und warfen schillernde, tiefblaue Schatten, was die Straße in eine ozeanische Atmosphäre tauchte. Amüsierte Einheimische drängten sich mit schicksalsergebener Resignation durch dieses Hindernis – sie hatten nicht darum gebeten, mit einer Zirkusvorstellung beglückt zu werden. Soweit ich erkennen konnte, waren es nur ein paar Konferenzteilnehmer mit Namensschildern, die sich an diesem Spektakel ergötzten oder den Musikanten und Wahrsagern Geld gaben.
    Einer der Kultisten, der den guten Albert für seine Zwecke eingespannt hatte, sang ›Puff, the Magic Dragon‹ und begleitete sich selbst auf einem Keyboard – eine Allerweltsmarke, genauso wie sein T-Shirt. Beide hatten übrigens Ausgänge, die über Infrarot programmierbar waren. Ich blieb vor ihm stehen und lächelte anerkennend, während ich ein Notepad-Programm aufrief, das ich vor etlichen Jahren selbst geschrieben hatte, und still einige Befehle eingab. Als wir weitergingen, verstummte sein Keyboard plötzlich – nachdem sämtliche Lautstärkewerte auf Null gesetzt wurden – und neben Einstein hing nun eine Sprechblase, in der stand: »Unsere Erfahrung berechtigt uns zur Annahme, daß die Natur die Verkörperung der einfachsten vorstellbaren mathematischen Begriffe darstellt.«
    Lee warf mir einen tadelnden Blick zu. »Kommen Sie!« sagte ich. »Er hat praktisch darum gebettelt.«
    Ein Stück weiter führte eine kleine Theatergruppe gerade eine geraffte Fassung von Der Eismann kommt auf, die in zeitgenössischem MR-Jargon umgeschrieben worden war. Eine Frau im Clownskostüm raufte sich die Haare und rief: »Mein übersinnliches Tuning ist mißlungen! Jeder in meinem Net-Clan wäre dem heilsamen Numen näher geblieben, wenn ich nur ihr Bedürfnis respektiert hätte, mich von ihren phantasiegespeisten Selbst-Erzählungen nähren zu lassen!«

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