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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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glauben, was sie glauben wollen, dann schließt das auch das Recht ein, sich bedroht zu fühlen.«
    Das Stück näherte sich dem Ende, während einer der Schauspieler einen Monolog hielt, in dem er Mitleid für die armen Wissenschaftler forderte, die den Kontakt zur Seele Gaias verloren hatten.
    »Und wie würden Sie die Behauptung einschätzen, daß jemand den göttlichen Willen der Erde kennt?« fragte ich. »Ist das nicht ein ähnlich radikaler Herrschaftsanspruch, der lediglich in sanftere und unbestimmtere Worte gekleidet ist?«
    Lee blickte mich mit verwirrt gerunzelter Stirn an. »Aber natürlich! Die MR ist genauso wie alle anderen – auch sie wollen nicht mehr, als die Welt nach ihren eigenen Begriffen definieren. Sie wollen die Parameter bestimmen, und sie wollen die Regeln aufstellen. Selbstverständlich haben sie eine geschickte Strategie entwickelt, um diese Tatsache zu verschleiern – indem sie sich beispielsweise als ›großzügig‹, ›offen‹ und ›aufnahmebereit‹ beschreiben. Ich will keineswegs andeuten, daß sie demütiger, tugendhafter oder toleranter als die meisten fanatischen Rationalisten sind. Ich versuche nur, ihren Glauben als Außenstehender zu beschreiben, so gut ich kann.«
    »Mit Hilfe Ihres eigenen universellen Erklärungsschemas?«
    »Genau. Das ist meine schwierige Aufgabe – zu einem sachkundigen Führer und Deuter jeder Subkultur auf der Erde zu werden. Das ist die schwere Last des Soziologen. Aber wer sollte sie sonst auf sich nehmen?« Sie lächelte feierlich. »Schließlich bin ich der einzige objektive Mensch auf diesem Planeten.«
    Wir gingen weiter durch den warmen Abend und ließen den Karneval hinter uns. Nach ein paar Minuten schaute ich zurück. Aus dieser Entfernung war es ein seltsamer Anblick, durch die Perspektive komprimiert und durch die umgebenden Gebäude eingerahmt: ein farbenprächtiges Spektakel inmitten einer Stadt, in der nebenbei das alltägliche Leben weiterging und die sich selbst aus dem Meer erschaffen hatte, Molekül für Molekül – und die sich dessen bewußt war. Die angrenzenden Straßen sahen im Vergleich dazu zweifellos schlicht und farblos aus, voller gewöhnlicher Fußgänger und ohne Harlekine und Leute, die Feuer oder Schwerter schluckten – doch die Erinnerung an den nachmittäglichen Tauchgang und das, was dieses Ereignis über die Insel offenbart hatte, genügte, um all die künstliche Exotik des Kults und die verzweifelte Betriebsamkeit zur Bedeutungslosigkeit verblassen zu lassen.
    Ich erinnert mich plötzlich daran, was Angelo am Abend gesagte hatte, bevor ich Sydney verlassen hatte. Wir sanktionieren die Dinge, denen wir nicht entfliehen können. Vielleicht war das der entscheidende Punkt für die Mystische Renaissance. Während des größten Teils der menschlichen Geschichte war der größte Teil des Universums unerklärlich gewesen – und die MR war ein Erbe der kulturellen Strömung, die beharrlich eine Tugend aus dieser Notwendigkeit gemacht hatte. Diese Leute hatten lediglich das historische Gepäck der früheren Religionen und anderen Glaubenssysteme, die zuvor dasselbe getan hatten, abgestreift – beziehungsweise es in einer Art scheinheiligem Pluralismus durch einen kulturellen Mixer gequetscht. Und das, was übrigblieb, hatten sie zur Essenz der großen Worte aufgeblasen. Das Mysterium zu sanktionieren bedeutet ›vollständig menschlich‹ zu sein. Wer es nicht tut, ist weniger als das, ›ohne Seele‹, ›von der linken Gehirnhälfte beherrscht‹, ›reduktionistisch‹… und muß wieder ›gesund‹ gemacht werden.
    James Rourke hätte hier sein sollen. Die Schlacht um die großen Worte war in vollem Gange.
    Als wir zum Hotel zurückgingen, wurde mir klar, daß ich Lee eine Frage hatte stellen wollen, die mir beinahe aus dem Gedächtnis entschwunden war.
    »Wer sind diese Anthrokosmologisten?« fragte ich. Der Begriff klang, als hätte er mir etwas sagen müssen, aber von den vagen etymologischen Indizien abgesehen, konnte ich nichts damit anfangen.
    Lee zögerte. »Ich bezweifle, ob Sie es wirklich wissen möchten. Wenn schon die Mystische Renaissance Ihren Zorn erregt…«
    »Ist es ein Ignoranzkult? Ich habe noch nie davon gehört.«
    »Es ist kein Ignoranzkult. Und das Wort ›Kult‹ ist natürlich sehr stark besetzt und abwertend. Obwohl ich ihn genauso fachlich benutze wie jeder andere, sollte ich es eigentlich nicht tun.«
    »Warum sagen Sie mir nicht einfach, woran diese Leute glauben? Dann kann ich

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