Quantum
Sie sieht älter aus, gelassen,
nicht reglos wie ein Asket oder ein Krieger, sondern wie jemand, der gewöhnt
ist, angestarrt zu werden, aber alles im Griff hat. Und in ihrem Lächeln lauert
eine Schlange.
»Jean, Jean, Jean«, singt sie mit einer melodischen Stimme, die
aufreizend vertraut klingt. »Was machen wir denn nur mit dir, mein kleiner
Blumenprinz?«
Dann steht sie auf, legt mir die Arme um den Hals und küsst mich.
Mieli ist in ihrem eigenen Körper gefangen. Sie will die Augen
schließen, aber sie kann es nicht; sie will sich von dem Dieb zurückziehen,
aber sie kann es nicht. Sie riecht den Alkohol in seinem Atem. Sie sieht, wohin
das alles führt, und plötzlich findet sie es nicht mehr komisch.
»Hilf mir«, ruft sie lautlos zu Perhonen hinauf. »Hol mich hier raus.«
Arme Kleine. Hier. Und schon ist sie von
tröstlicher, kühler Dunkelheit umgeben. In welche Subroutine ihr Bewusstsein
auch verschoben wurde, das Schiff hat immerhin noch Zugriff darauf.
»Was hat sie eigentlich vor?«
Ihre Wege sind unerforschlich, du kennst das ja, antwortet das Schiff. Alles klar bei dir?
»Nein.« Körperlos, stimmlos. Mieli möchte weinen. »Er hatte recht.
Ich hatte unrecht. Aber ich hatte keine Wahl, oder?«
Nein. Was die Göttin dort sagt, das gilt, und daran ist im Moment nichts zu ändern. Es tut
mir so leid.
»Und ich habe meine Gelübde gebrochen. Ich muss Ilmatar um Vergebung
bitten.«
Sie ist für eine Göttin sehr verständnisvoll. Mit
ihr kommst du sicher besser zurecht als mit der anderen. Keine Sorge. Sie und
der Dieb passen zusammen.
Die ruhige Stimme des Schiffs beschwichtigt Mieli. »Das stimmt«,
sagt sie. »Und überhaupt, haben wir nicht genug zu tun?«
Und ob.
Mit einem Mal ist die Dunkelheit, die Mieli umgibt, nicht mehr leer.
Sie befindet sich in einer Matrix von ungeheuerer Weite und Komplexität, die
sich ihr mit leisem Raunen offenbart: zwei riesige Bäume mit Knoten und Ästen,
einander überlagernd, stellen die beiden Versionen von Christian Unruhs
verschlüsseltem Bewusstsein und seinen Erinnerungen dar.
Ich küsse Mielis Mund, und es ist, als dürfte ich endlich die
alte Freundin küssen, zu der ich mich sexuell immer schon hingezogen fühlte.
Nur fällt der Kuss ganz anders aus, als ich mir das vorgestellt hatte: Er ist
von einer Wildheit und einer Kraft, die mir den Atem raubt. Und natürlich ist
sie viel stärker als ich. Ich muss den Kopf wegdrehen, um noch Luft zu
bekommen.
»Wer sind Sie?«, keuche ich hervor.
Sie lässt sich auf die Couch fallen und lacht wie ein kleines
Mädchen. Dann legt sie die Arme breit auf die Rückenlehne und schlägt die Beine
übereinander.
»Deine Wohltäterin. Deine Befreierin. Deine Göttin. Deine Mutter.«
Als sie das Entsetzen in meinen Zügen sieht, lacht sie noch lauter. »Das war
ein Scherz , mein Liebling. Obwohl man mich als deine geistige Mutter bezeichnen könnte. Ich habe dich vor langer
Zeit vieles gelehrt.« Sie klopft neben sich auf die Couch. »Nun setz dich
doch.«
Ich gehorche, wenn auch nicht ohne Zögern.
Sie streicht mir mit den Fingern über die Wange und verirrt sich in
meinen offenen Hemdkragen. Kalte Schauer überlaufen mich. »Wir sollten
eigentlich mal feststellen, ob du dich noch an meine Lehren erinnerst.« Ein
harter Kuss auf meinen Hals, dann nimmt sie die Haut zwischen die Zähne. Es
fällt mir schwer, mich auf meine Wut zu konzentrieren. Ich spanne alle Muskeln
an.
»Mach dich locker. Du magst doch diesen Körper, ich weiß es genau.
Und ich habe dafür gesorgt, dass der deine … empfänglich ist.« Die letzten
Worte flüstert sie nur noch, und ihr heißer Atem auf meiner Haut verwandelt den
Zorn in etwas ganz anderes. »Wenn man sehr lange lebt, wird man auf allen
Gebieten zum Genießer. Besonders da, wo man nur selten zum Zug kommt. Wenn alles
vorbei ist, zeige ich dir, wie man lebt. Diese Körper sind so schwer und
ungelenk: in den Gubernja s kann man mehr anfangen.
Aber es macht Spaß, findest du nicht?« Sie beißt mich fest ins Ohrläppchen und
zuckt zurück.
»O, dieser alberne Biot-Feed. Die arme Mieli ist so paranoid. Ich
werde ihn abschalten. Du läufst mir doch wohl nicht weg?«
»Nein«, hauche ich. »Aber wir müssen reden.«
»Reden können wir später. Meinst du nicht auch?«
Und, Gott helfe mir, ich gebe ihr recht.
Vergiss nicht, dass ich nicht alles verstehe ,
sagt Perhonen . Die
Mathematik-Gogols aber schon. Das ist eine der Wurzeln seines Gevulot-Baums. Für
Mieli sehen die
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