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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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Schokoladen-Pietà mit
hohlen Schläfen und einem dünnen Schnurrbart. Die Augen sind offen, man sieht
das Weiße, doch sonst ist er über und über mit einer klebrigen braun-schwarzen
Masse bedeckt. Sie ist aus dem Bottich geschwappt, den er mit beiden Händen
umklammert, als wollte er sich darin ertränken. Seine weiße Schürze und seine
Kleider sind fleckig wie ein Rorschachtest.
    Isidore blinkert, um auf den Exospeicher der Oubliette zuzugreifen.
Der zeigt ihm den Mann wie einen alten Freund: Marc
Deveraux. Dritte Inkarnation als Aristokrat. Chocolatier. Verheiratet. Eine
Tochter. Das ist die erste Tatsache, und sie verursacht ihm eine
Gänsehaut. Wie immer am Anfang eines rätselhaften Kriminalfalls fühlt er sich
wie ein Kind, das ein Geschenk auspackt. Irgendein Sinn verbirgt sich hier
unter Schokolade und Tod.
    »Hässliche Geschichte«, sagt eine Reibeisenstimme, die wie ein
ganzer Chor klingt. Er zuckt zusammen. Natürlich, der Gentleman, er steht auf
der anderen Seite der Leiche und stützt sich auf seinen Spazierstock. Sein
Gesicht, ein glattes Metall-Ovoid, das in krassem Gegensatz zum Schwarz seines
langen Samtmantels und seines Zylinders steht, blitzt im Sonnenlicht, als würde
er Isidore zuzwinkern.
    »Als du mich gerufen hast«, sagt Isidore, »dachte ich nicht, dass es
wieder nur um einen Fall von Gogol-Piraterie geht.« Er sagt es möglichst
beiläufig, doch wäre es unhöflich, seine Gefühle vollständig mit Gevulot zu
kaschieren, denn so kann er nicht verhindern, dass in seinen Worten ein
Unterton von Begeisterung mitschwingt. Dies ist erst das dritte Mal, dass er
dem Zaddik persönlich begegnet. Mit einem der verehrten Vigilanten der Oubliette
zusammenarbeiten zu dürfen, kommt ihm immer noch vor wie ein Kleinjungentraum,
der Wirklichkeit geworden ist. Dennoch hätte er nicht erwartet, dass ihn der
Gentleman zu einem Bewusstseinsdiebstahl hinzuziehen würde. Das Kopieren
führender Bewusstseine der Oubliette durch Sobornost-Agenten oder Dritte ist
ein Verbrechen, das die Zaddiks mit allen Kräften zu bekämpfen suchen.
    »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagt der Gentleman. »Beim
nächsten Mal werde ich mich bemühen, dir etwas Ausgefalleneres zu bieten. Sieh genauer hin.«
    Isidore zieht sein Zoku-Vergrößerungsglas – ein Geschenk von Pixil,
eine glatte Nanomaterie-Scheibe mit einem Messinggriff – und betrachtet damit
den Leichnam. Blitzartig entstehen Adern, Hirngewebe und Zellscans, die ganze Archäologie
eines toten Metabolismus schwimmt an ihm vorbei wie exotisches Meeresgetier. Er
blinkert wieder, diesmal um die medizinischen Informationen abzurufen, die ihm
nicht vertraut sind, und zuckt zusammen, als sich die Fakten in sein
Kurzzeitgedächtnis eingraben und ihm leichte Kopfschmerzen verursachen.
    »Eine … Virusinfektion«, sagt er stirnrunzelnd. »Ein Retrovirus. Das
Glas findet in seinen Hirnzellen eine anomale Gensequenz, Teil eines
Archaebakteriums. Wie lange wird es dauern, bis wir mit ihm sprechen können?«
Isidore ist nicht erpicht darauf, wiedererweckte Verbrechensopfer zu verhören:
Ihre Erinnerungen sind immer bruchstückhaft, und manche sind nicht einmal
bereit, die traditionelle Fixierung der Oubliette auf den Schutz ihrer
Privatsphäre zu überwinden, um bei der Aufklärung ihres eigenen Mordfalls oder
der Gogol-Piraterie zu helfen.
    »Vielleicht niemals«, sagt der Gentleman.
    »Was?«
    »Es war ein optogenetischer Black-Box-Upload. Sehr primitiv: Es muss
die reine Folter gewesen sein. Ein altes Verfahren aus der Zeit vor dem Großen
Zusammenbruch. Damals hat man es an Ratten durchgeführt. Man infiziert das
Versuchsobjekt mit einem Virus, das seine Neuronen empfindlich für gelbes Licht
macht. Dann stimuliert man das Gehirn stundenlang mit Lasern, fängt die
Aktivitätsmuster ein und trainiert eine Black-Box darauf, sie zu emulieren.
Daher die kleinen Löcher in seinem Schädel. Optische Fasern für den Upload.«
Der Zaddik streicht vorsichtig mit behandschuhter Hand das schüttere Haar des
Chocolatiers auseinander: Darunter kommen winzige schwarze Punkte in der
Kopfhaut zum Vorschein, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
    »Produziert Unmengen an redundanten Daten, umgeht aber das Gevulot.
Und zerhackt natürlich seinen Exospeicher vollständig. Man könnte sagen, er
wird endgültig getötet. Der Körper starb schließlich an Tachyarrhythmie. Die
Wiedererwecker arbeiten bereits an seinem nächsten, aber es besteht nicht viel
Hoffnung. Es sei denn,

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