Quantum
geht zu den Türen des Thoraschreins und
betrachtet sie mit merkwürdigem Blick. »Der Wohlklang des Gesetzesbruchs«,
murmelt er vor sich hin. Dann dreht er sich um. »Isaac, weißt du, warum wir
Freunde sind?«
»Weil ich dich etwas weniger hasse als all die anderen Idioten, die
diese Mücke von einer Marsstadt auf ihrem Rücken trägt«, sagt Isaac.
»Weil du nichts hast, was ich haben will.«
Isaac sieht Paul an. Im Schein der Buntglasfenster und durch den
Wodkaschleier wirkt er sehr jung. Er erinnert sich an ihre erste Begegnung: ein
Streit in einer Fremdweltbar, der außer Kontrolle geriet. Isaac, der seinen lang gehegten Zorn in Stößen heraushustete und im Kampf regelrecht aufblühte,
war hocherfreut, als er feststellte, dass sich der junge Mann nicht hinter
Gevulot verbarg.
Für einen Moment schweigt Isaac. »Ich bin da anderer Meinung.« Er
hält die Flasche hoch. »Komm und hol sie dir.« Er lacht lange und laut. »Aber
im Ernst, was liegt dir auf der Seele? Ich weiß, wohin dieses Marathonsaufen
führt. Sag bloß nicht, dass es wieder um dieses Mädchen geht.«
»Möglicherweise«, sagt Paul, »habe ich eine große Dummheit
begangen.«
»Ich hatte nichts anderes erwartet«, erwidert Isaac. »Soll ich dich
bestrafen? Soll Gott dich bestrafen? Den Gefallen kann ich dir gerne tun. Komm
her, dann haue ich dir eine runter.«
Er will aufstehen, aber seine Beine spielen nicht mit. »Pass auf, du
bescheuerter Blödmann. Ich habe bei unserer ersten Begegnung unter anderem
deshalb darauf verzichtet, dir die Fresse zu polieren, weil ich die Sucht
gesehen habe. Ich weiß nicht, wonach du dich so heftig sehnst, aber du kannst
dich nicht davor verstecken. Bei mir sind es Meme: Hirnwürmer, Religion,
Dichtung, die Kabbala, Revolutionen, die fjodorowistische Philosophie, Alkohol.
Bei dir ist es etwas anderes.« Isaac sucht in seiner Jackentasche nach der
Flasche, aber seine großen Hände sind so unbeholfen, als trüge er Fäustlinge.
»Was immer es ist, du bist drauf und dran, dafür eine gute Sache einfach
wegzuwerfen. Mach dich frei davon. Mach es nicht so wie ich. Schneide es raus.«
»Das kann ich nicht«, sagt Paul.
»Warum denn nicht?«, fragt Isaac. »Es tut nur einmal weh.«
Paul schließt die Augen. »Es ist dieses … Ding. Ich habe es geschaffen. Aber es ist größer als ich. Es ist um mich
herumgewachsen. Ich dachte, ich könnte davon loskommen, doch es geht nicht:
Immer wenn ich etwas haben will, sagt es, ich soll es mir nehmen. Und ich kann
es auch noch. Es ist ganz einfach. Besonders hier.«
Isaac lacht. »Ich will gar nicht behaupten, dass ich auch nur ein
Wort verstehe«, sagt er. »Das ist doch Fremdweltlergeschwätz, nicht wahr?
Verkörperte Kognition. Viele Bewusstseine und Körper und der ganze Scheiß.
Weißt du, für mich jammerst du rum wie ein kleiner Junge, der zu viele
Spielsachen hat. Pack sie weg. Wenn du sie nicht zerstören kannst, dann schließ
sie irgendwo ein, wo du nur unter großen Schmerzen wieder an sie rankommst. So
hat man mir damals auf der Erde beigebracht, mit dem Nägelkauen aufzuhören.«
Isaac lehnt sich zurück und merkt, dass er auf der Holzbank langsam nach unten
rutscht. Er schaut zu den geschnitzten Löwen an der Decke empor. »Sei ein
Mann«, sagt er. »Du bist größer als dein Spielzeug. Wir sind immer größer als
die Dinge, die wir erschaffen. Pack sie weg. Fang mit deinem Leben, deinem
Bewusstsein und deinen Händen etwas Neues an.«
Paul sitzt neben ihm und starrt auf die Türen des Thoraschreins.
Dann zieht er Isaacs Metallflasche aus der Tasche und trinkt. »Und wie hat das
bei dir geklappt?«, fragt er.
Isaac ohrfeigt ihn und ist selbst überrascht, weil er tatsächlich
trifft. Paul lässt die Flasche fallen, hält sich mit einer Hand das schmerzende
Ohr und die Wange und sieht ihn fassungslos an. Die Flasche fällt klirrend zu
Boden, der restliche Wodka schwappt heraus.
»Siehst du, wozu du mich getrieben hast?«, fragt Isaac.
8 Der Dieb und die Piraten
Das Museum für Zeitgenössische Kunst ist eine Aneinanderreihung von transparenten Röhren, Balkonen und Galerien, es
liegt unsichtbar unter Straßenniveau und zieht sich wie ein kunstvoller
Glasgürtel um die Hüften der Stadt. Durch die Bauweise fällt reichlich Licht
auf die Ausstellungsstücke, und nach unten bekommt man spektakuläre Ausblicke
auf die Beine der Stadt geboten, die träge ihre Bögen durch das Hellas-Becken
ziehen.
Wir schlendern, Tempmaterie-Becher mit Kaffee in der
Weitere Kostenlose Bücher