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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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seinen Händen, und die spinnendünnen
Formerglieder tanzen. Der Schweiger stellt eine winzige Statue vor Isidore hin.
Sie ist aus dem schwarzen Material der Mauer gemacht: ein Mann, der sich
lächelnd verneigt.
    »Gern geschehen«, sagt Isidore.
    Sie stehen einen Moment lang schweigend voreinander. Isidore
betrachtet das abbröckelnde Relief an der Mauer, all die vielen Gesichter und
Landschaften, die sein Vater geschaffen hat. Da ist ein Baum, liebevoll in
Stein gearbeitet, auf den Ästen sitzen großäugige Eulen. Vielleicht hatte Élodie recht, denkt er. Es ist
nicht fair.
    »Ich muss dir etwas erzählen«, sagt er. Die Schuld hängt ihm auf dem
Rücken, den Schultern und am Bauch, nass und schwer wie der Alte aus dem Meer.
Solange sie ihn im Griff hat, fällt ihm das Sprechen schwer.
    »Ich habe eine Dummheit gemacht. Ich habe mit einem Journalisten
gesprochen. Ich war betrunken.«
    Dann werden ihm die Knie weich, und er setzt sich in den Sand und
nimmt die Statuette seines Vaters in die Hand. »Es war unverzeihlich. Es tut
mir leid. Ich habe deshalb bereits einigen Ärger bekommen, und das könnte auch
dir passieren.«
    Diesmal sind es zwei Statuetten, die größere hält die Hand über den
Rücken der kleineren.
    »Ich weiß, dass du mir vertraust«, fährt Isidore fort. »Ich wollte
dir nur Bescheid sagen.« Er steht auf und betrachtet das Relief: laufende
Pferde, abstrakte Formen, Gesichter, Aristokraten, Schweiger. Der Quicksuit
lässt etwas von dem Schießpulvergeruch durch, den der frisch bearbeitete Stein
verströmt.
    »Der Reporter hat mich gefragt, warum ich versuche, Fälle
aufzuklären. Ich habe ihm eine dumme Antwort gegeben.« Er hält inne.
    »Weißt du noch, wie sie aussieht? Hat sie dir das hinterlassen?«
    Der Schweiger, ein Wesen aus scharfkantigem Metall, steht auf und
fährt mit seinen Formergliedmaßen über eine Reihe leerer weiblicher Gesichter.
Jedes ist ein klein wenig anders, jedes versucht, etwas einzufangen, was
verloren gegangen ist.
    Isidore erinnert sich an den Tag, an dem sich das Gevulot seiner
Mutter schloss und er aufhörte, sich an sie zu erinnern. Mit einem Mal spürte
er, dass etwas fehlte . Bis dahin hatte er immer ein
Gefühl von Geborgenheit gehabt, jemand wusste stets, wo er war und was er
gerade dachte.
    Der Schweiger macht noch eine Statue aus dem Sand, eine Frau ohne
Gesicht, die einen Schirm über die beiden anderen hält.
    »Ich weiß, du glaubst, sie wollte uns beschützen. Ich glaube es
nicht.« Er tritt mit dem Fuß nach der Statue. Sie zerfällt zu Staub. Prompt hat
er ein schlechtes Gewissen.
    »Das wollte ich nicht. Tut mir leid.« Wieder schaut er auf die Wand,
die niemals endende Arbeit seines Vaters. Sie reißen sie
nieder, und er baut sie wieder auf. Nur die Phoboi sind Zeugen. Plötzlich
kommt er sich vor wie ein Narr. »Lass uns nicht mehr von ihr sprechen.«
    Der Schweiger schwankt wie ein Baum im Wind. Dann formt er zwei neue
Statuen mit bekannten Gesichtern. Sie halten sich an den Händen: »Pixil geht es
gut«, sagt Isidore. »Ich … ich weiß nicht, wo es mit uns hinführen soll. Aber
wenn ich mir darüber klar bin, bringe ich sie wieder mit.«
    Er setzt sich erneut hin, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Mauer.
»Warum erzählst du mir nicht, was du so treibst?«
    Zurück in der Stadt, im hellen Licht des Tages, fühlt Isidore
sich erleichtert, und das liegt nicht nur daran, dass das Gewicht des
Quicksuits nicht mehr da ist. Er hat die erste Statue in seiner Tasche. Ihr
Gewicht tröstet ihn.
    Er leistet sich ein Mittagessen in einem vornehmen
italo-chinesischen Restaurant an der Beständigen Allee. Der Ares-Bote bringt den Artikel über ihn immer noch, aber diesmal gelingt es ihm, sich auf
sein Essen zu konzentrieren.
    »Keine Sorge, M. Beautrelet«, sagt eine Stimme. »Jede Publicity ist
gute Publicity.«
    Isidore schaut überrascht auf. Am anderen Ende des Tisches sitzt
eine Frau. Er hat nicht einmal ein Zucken im Gevulot gespürt. Sie hat einen
stattlichen jungen Designerkörper, und ihr Gesicht ist auf eine bewusst
unkonventionelle Weise schön: kurz geschorenes Haar, eine kräftige,
geschwungene Nase, volle Lippen und gewölbte Augenbrauen. Sie ist weiß
gekleidet, eine xantheische Jacke über einer teuren Variante der
Revolutionsuniform. Aus ihren Ohrläppchen zwinkern ihn zwei winzige Edelsteine
an.
    Sie legt ihre schmalen Hände auf die Zeitung, die langen Finger sind
gekrümmt wie ein Katzenbuckel.
    »Wie fühlt man sich, wenn man

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