Quantum
Sie zieht
die Augenbrauen hoch. Es ist nicht leicht, sich eine Staatsangehörigkeit für
den Mars zu kaufen; normalerweise muss darüber die STIMME entscheiden. Aber die Gogol-Piraten scheinen diese Identität ziemlich lückenlos
dokumentiert und mit Bedacht hier und dort relevante Details in öffentlichen
Exospeichern deponiert zu haben.
»Interessant. Warum gerade hier?«
Ich deute auf die Umgebung. »Sie haben einen Himmel. Sie haben einen ganzen Planeten. Sie haben etwas damit angefangen. Sie haben
einen Traum. «
Sie betrachtet mich ebenso eindringlich wie ihren Mittagsapfel, und
ich warte nur darauf, dass sie zubeißt. »So denken viele Leute. Allerdings
hatten wir vorher einen grausamen Bürgerkrieg, der selbstreplizierende
Tötungsmaschinen entfesselte, welche das Terraforming rückgängig machten, das
unsere Sklavenhalter durchgeführt hatten, bevor wir sie umbrachten.« Sie
lächelt. »Aber es stimmt, irgendwo unter alledem verbirgt sich ein Traum.«
»Bisher hat mir noch niemand gesagt, wie oft sie …«
»Angreifen? Die Phoboi? Das kommt darauf an. Die meiste Zeit merkt
man gar nichts davon, und wenn doch, dann ist es nur ein Grollen in der Ferne.
Die Schweiger werden schon mit ihnen fertig. Natürlich fliegen manchmal
Jugendliche in Gleitern hin, um sich den Angriff anzusehen. Ich habe das auch
getan, als ich noch jünger war. Es ist spektakulär.«
Sie überrumpelt mich mit einer Mit-Erinnerung. Ein
Nanomaterie-Gleiter mit weißen Tragflächen über lodernden Flammen und
krachenden Donnerschlägen; grelle Laserspuren im orangeroten Staub; eine
schwarze Lawine von Objekten, die sich gegen die
Schweiger-Truppen werfen; eine grelle Explosion. Und bei ihr in der Kabine
jemand, der sie berührt, ihren Hals küsst …
Ich hole tief Luft. Die Piraten-Software schnappt sich die kokette
Erinnerung und frisst sich hindurch.
»Was haben Sie? Sie sehen so verwirrt aus«, sagt sie.
Ich sehe, dass das Essen gekommen ist; der köstliche Duft holt mich
in die Gegenwart zurück, die Reizüberflutung ist so groß, dass mir die Luft
wegbleibt. Der Kellner – ein dunkelhaariger Mann mit blendend weißen Zähnen –
grinst mich an. Raymonde nickt ihm zu.
»Das ist ein verwirrendes Lokal«, sage ich.
»Das gilt für alle interessanten Örtlichkeiten. Genau diese Wirkung
versuche ich mit der Musik zu erreichen, zu der Sie so viele gute Ideen
hatten.«
»Wollen Sie, dass Ihre Zuhörer einen Herzanfall bekommen?«
Sie lacht. »Nein, ich meine, auch wir sind verwirrt. Es ist ja schön
und gut, von den Träumen der Revolution zu sprechen, von der Wiedererschaffung
der alten Erde, von einem gelobten Land und so weiter, aber tatsächlich ist das
alles nicht so einfach. In den Traum mischen sich auch viele Schuldgefühle. Und
die jüngeren Generationen denken anders. Ich war einmal im Schweigen und möchte die Erfahrung nicht wiederholen. Und Leute, die noch
jünger sind als ich, erleben, wie sich Zokus hier ansiedeln und Leute wie Sie.
Sie wissen nicht, was sie davon zu halten haben.«
»Wie war es? Ich meine: ein Schweiger zu sein?« Ich probiere das
Essen. Das Zebra ist wirklich vorzüglich, dunkel und saftig: von gutem Essen
versteht sie etwas. Vielleicht hat sie das von mir gelernt.
Sie zerkrümelt gedankenverloren ein Stück Brot auf ihrem Teller. »Es
ist nicht leicht zu erklären. Wenn die ZEIT ausläuft, folgt sehr abrupt der Übergang. Die Wiedererwecker sammeln nur den
Körper ein, man selbst ist bereits dort. Es ist wie bei einem Schlaganfall.
Plötzlich arbeitet das Gehirn anders, in einem anderen Körper, mit anderen
Sinnen.
Aber nach dem ersten Schock ist es gar nicht so schlimm. Man
arbeitet sehr konzentriert, und das ist durchaus befriedigend. Man ist anders
verdrahtet. Man kann nicht sprechen, aber man hat sehr lebhafte Wachträume, die
man mit anderen teilen kann. Und man ist stark , je
nachdem, in was für einem Körper man landet. Das kann … beglückend sein.«
»Dann gibt es also doch so etwas wie ein Sexualleben im Schweigen?«
»Vielleicht finden Sie das eines Tages selbst heraus, mein kleiner
Fremdweltler.«
»Es klingt jedenfalls gar nicht so schlecht.«
»Man hat sich endlos darüber gestritten. Viele von den Jungen
glauben, es hätte nur etwas mit Schuld zu tun. Aber die STIMME hat nie Anträge bekommen, das System zu verändern. Man könnte sich fragen,
warum: Könnten wir es nicht auch anders regeln? Könnten wir nicht
Biosynth-Drohnen einsetzen oder von den Zokus Datensysteme
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