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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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Herbstfarben. Die Gubernja -Gehirne des
Inneren Systems, Diamantkugeln, geschmückt mit den Gesichtern der Gründer,
gefüllt mit Untod und Intrigen.
    Eigenartig ist, dass mir das alles weniger wirklich vorkommt, als
hier mit ihr in der Sonne zu sitzen und so zu tun, als wäre ich nur ein kleiner
Mensch.
    Sie schließt kurz die Augen und spürt der Erinnerung nach. »Ich weiß
nicht, ob Sie das alles nur erfunden haben«, sagt sie. »Aber Sie haben sich
eine kleine Belohnung verdient.«
    Sie küsst mich. Zunächst versuche ich noch zu ergründen, wonach ihre
Eiskrem schmeckt. Doch dann verliere ich mich in der Berührung ihrer Lippen,
ihre Zunge gleitet über die meine. Sie reicht mir eine kokette Mit-Erinnerung,
den Kuss aus ihrer Sicht, eine Umkehrung der Perspektive.
    In meinem Kopf stößt die Piratensoftware einen Freudenschrei aus:
Sie hat eine Schleife gefunden, eine Erinnerung an mich ,
ein Loch in ihrem Gevulot, das sich zu einem gähnenden Abgrund des déjà vu öffnet. Ebenfalls ein Kuss, vor langer Zeit, der
von diesem hier überlagert wird; eine Chimäre aus Gegenwart und Vergangenheit.
Ich ignoriere das Triumphgebrüll der Software und erwidere den Kuss, damals und
heute.
    »Erzähle mir von den Zaddikkim«, verlangt Mieli. Sie könnte das
auch den Gogol-Chirurgen erledigen lassen. Aber was sie tut, ist ohnehin
schändlich genug. Da ist es das Mindeste, die Last selbst auf sich zu nehmen.
    »Anomalien«, sagt der Wasilew wehmütig. »Unser schlimmster Feind.
Zoku-Technologie. Zwischen den Verborgenen und der Zoku-Kolonie finden geheime
Machtkämpfe statt. Die Zaddikkim sind eine Waffe. Quantentechnologie.
Theaterdonner. Die Menschen hier vertrauen ihnen. Wir versuchen sie zu beseitigen,
wo immer wir können, aber sie hüten ihre Identität gut.«
    »Wer sind sie?«
    »Die Stille. Brutal und effizient. Der Futurist. Flink, neigt zu
Scherzen.« Sichtlich schadenfroh wirft der Wasilew mit klingenden Namen und
bunten Bildern um sich. Eine maskierte Gestalt in blauem Umhang; ein roter
Fleck, der sich bewegt wie die Schnellen auf der Venus. Hypothetische
Identitäten, mögliche Ziele; Ausblicke auf Agoren und geknackte Exospeicher.
    »Der Gentleman.« Der Mann in der Silbermaske. Und dahinter …
    »Nein, nein, nein«, flüstert Mieli. »Da soll mich doch der schwarze
Mann holen.«
    Sie sucht Kontakt zum Dieb, aber die Biot-Verbindung schweigt.
    Lange stolpern wir lachend und immer wieder innehaltend, um im
Schutz von Gevulot-Schleiern oder manchmal ganz im Freien zu knutschen, durch
die Straßen, bis wir ihre Wohnung erreichen. Ich bin wie betrunken: ein ganzer
Cocktail aus Wollust, vermischt mit Schuldbewusstsein, vermischt mit Heimweh,
treibt mich auf einem Kurs vorwärts, der unausweichlich zu einem Zusammenstoß mit
der harten, unerbittlichen Gegenwart führt.
    Sie wohnt in einem der hängenden Türme unter der Stadt. Im Fahrstuhl
nach unten küsse ich ihren Nacken, meine Hände verirren sich unter ihre Bluse,
streichen über ihren seidenweichen Bauch. Sie lacht. Die Piratensoftware
schnappt sich jede Berührung, jede Zärtlichkeit, die wir im Gedächtnis behalten
dürfen, und wühlt sich gnadenlos immer tiefer in ihr Gevulot hinein.
    Drinnen löst sie sich aus meinem Griff und legt mir einen Finger auf
die Lippen. »Wenn wir uns daran erinnern sollen«, sagt sie, »darf es auch ruhig erinnerungswürdig sein. Mach es dir bequem. Ich bin
gleich wieder da.«
    Ich setze mich auf ihre Couch und warte. Der Raum ist sehr hoch, auf
den Regalen stehen Kunstwerke vom Mars, aber auch alte Artefakte von der Erde.
Sie kommen mir bekannt vor. Ich sehe eine alte Waffe, einen Revolver, in einem
Glasgehäuse. Er weckt unerfreuliche Erinnerungen an das Gefängnis. Ich sehe
auch Bücher und ein altes Klavier aus Mahagoniholz, das in krassem Widerspruch
zu all dem Glas und Metall steht. Sie erlaubt mir, alles zu sehen und im
Gedächtnis zu behalten, und ich spüre, wie sich die Aufnahmekapazität der
Gogol-Piratensoftware der kritischen Grenze nähert. Sie steht kurz davor, alle
ihre Erinnerungen abzusaugen.
    Musik setzt ein, anfangs kaum hörbar, dann lauter: ein Klavierstück,
eine wunderschöne Melodie, gelegentlich unterbrochen von bewusst eingesetzten
quälenden Dissonanzen.
    »Und jetzt raus mit der Sprache, Raoul«, sagt sie und setzt sich in
einem schwarzen Seidengewand, zwei Champagnergläser in den Händen, neben mich.
»Was ist daran nicht in Ordnung?« Unter uns ziehen die weichen Lichter der
Schweiger zu

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