Quarantäne
einen Unterschied macht, aber es ist gut zu wissen, daß es nicht jeden möglichen Weg durch die Stadt einschlagen kann. Der Gedanke, daß einige Versionen von mir vielleicht am falschen Ort ankommen könnten, erscheint mir schlimmer als alles andere, was an Katastrophen passieren könnte.
Man merkt kaum, daß der Lieferwagen gestartet ist; der Motor ist sehr leise, die Beschleunigung sanft. Auf dem kühlen Metall der Ladefläche sitzend, den schwachen Geruch nach Kunststoff wohl von einem früheren Transport in der Nase, kommt mir das alles ganz unpassend normal vor.
Ich weiß nicht, wie ich mir die Zeit vertreiben soll. Ich möchte nicht über die Ungewißheiten nachgrübeln, die mich erwarten; es ist nichts zu gewinnen, wenn ich jetzt über die >Unwahrscheinlichkeit< eines Erfolgs nachdenke. Ich kann nicht E3 aktivieren, also versuche ich mich abzulenken, indem ich den Weg des Autos nachzuvollziehen versuche – ohne Unterstützung durch E5, ohne auch nur einen Blick auf die markierte Route im Stadtplan von Déjà-vu zu werfen. Das Auto fährt sehr gleichmäßig, doch kann man spüren, wenn es um eine Ecke fährt; jede Kursänderung registriere ich auf einer imaginären Karte, wie sie nach meiner Erinnerung aussehen müßte. Hin und wieder spürt man das weiche, leichte Bremsen, wenn das Auto auf andere Fahrzeuge Rücksicht nehmen muß – kleine Abweichungen vom vorprogrammierten Ablauf, aber immer noch ganz unabhängig von mir. Ich habe mich geirrt: Draußen ist kein Traumland, es ist Neu-Hongkong, wie ich es kenne.
Und drinnen?
Ich kann es nicht lassen: Ich nehme das Würfelspiel aus der Tasche und probiere. Das Maschinchen ist schlauer, als ihm guttut; die Hologramme, die sich immer den Lichtverhältnissen anzupassen versuchen, sind logischerweise in der Dunkelheit unsichtbar. Wieder eine Gelegenheit, sich gegen das Würfeln zu entscheiden… eine Gelegenheit, das Risiko zu erhöhen, nicht ausgewählt zu werden. Ich nehme die Taschenlampe, um die Würfel sehen zu können. Eins, eins. Wie unsinnig es auch ist, ich fühle mich bestätigt. Ich stecke das Spiel nach sechs Würfen weg – nachdem ich die Wahrscheinlichkeit meines Eigenzustands um den Faktor zwei Milliarden verringert habe.
Der Lieferwagen folgt jetzt in behutsamen Schwenks einem Zickzackkurs – das Straßenlabyrinth, das zum BDI-Gebäude führt. Ich verliere die Orientierung, ohne Plan kann man sich in diesem krankhaften Wirrwarr nicht zurechtfinden. Als der Wagen hält, warte ich eine halbe Minute, um sicher zu sein, daß er nicht nur vor einem Hindernis stehengeblieben ist. Ich steige aus und stehe fast an der Stelle, wo ich damals im Januar die kleine Culex habe fliegen lassen. Die Erinnerung an jene Nacht steht mir jetzt ganz deutlich vor Augen – . aber das ist viel eher Voyeurismus als Nostalgie: Ich habe kein Recht, so dreist mich in das Leben jenes toten Fremden zu mischen.
Drei Minuten nach zwei. Ich habe genau siebenundfünfzig Minuten. Ich werfe einen Blick auf den grauen Himmel, über dem schwer und bedrückend die Barriere lastet wie ein Meer von Gewitterwolken. Ein Gedanke meldet sich ganz unerwartet zu Wort: Hätte ich nicht warten sollen, bis Lui mich bezahlt hat?… Fünfhunderttausend Dollar… Um dann zu entscheiden, ob ich tatsächlich verpflichtet bin, der wahren INITIATIVE mit einem solchen Wahnsinnsakt zu dienen?
Ich könnte ja wieder in den Lieferwagen klettern.
Aber ich tue es nicht – und alle Versionen von mir, die es tun, sind so gut wie tot. Und sicher wissen sie das auch. Wie fühlen sie sich dabei? Und wie begründen sie es?
Ich gehe zum Zaun.
Ich klettere hinüber, wie ich es schon einmal getan habe. Es muß auch ohne Wunder gehen; der Gedanke, so unter freiem Himmel ganz unnötig meine Fähigkeiten einzusetzen, ist mir unangenehm – und wie immer ist mein verschmiertes Ich einer Meinung mit mir. Oder umgekehrt.
Ich weiß nicht, wer heute nacht zur Wache eingeteilt ist. Vielleicht Huang Qing und Lee Sohlung, und vielleicht spielen sie Karten, ohne sich um die Monitore zu kümmern. Ich weiß noch immer nicht, an welchem Punkt ich ansetze, wenn ich ihre Wachsamkeit neutralisiere: vielleicht am Bildwandler der Kamera, vielleicht an der Datenleitung, am Bildschirm – oder auch am Beobachter selbst, seiner Netzhaut, seinem Gehirn. Egal, auf irgendeine Weise komme ich ungesehen davon; es ist das Ergebnis, das ich bestimme, nicht der Mechanismus, der es herbeiführt.
Ich steige durch dasselbe Fenster ein
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