Quarantäne
morgen einen Artikel in der Physical Review gelesen: eine völlig neue Betrachtungsweise des Meßproblems. Sie erfinden einfach einige zusätzliche Dimensionen der Raumzeit, postulieren ein paar Nichtlinearitäten, Asymmetrien und genau passende Koeffizienten – und, o Wunder, was kommt am anderen Ende heraus? Der Kollaps der Wellenfunktion.«
Ich weiß, daß ich sie pflichtgemäß mitten in dem Wort >Meßproblem< hätte unterbrechen müssen – und sei es nur, um den Anschein zu wahren –, aber das darf ich ihr an so einem Tag wirklich nicht antun.
»Die Leute verschwenden ihre Zeit«, sagt sie, »indem sie mit viel Hallo in Sackgassen hineinrennen – und ich könnte sie aufhalten. Deshalb fühle ich mich schuldig, es macht mich zur Lügnerin, durch Verschweigen. Ich erwarte ja nicht, daß Leung Betriebsgeheimnisse verrät – Verdrahtungsschemata, die Pläne für das Modul –, aber ich sehe nicht ein, warum wir nicht wenigstens die Ergebnisse unserer Experimente veröffentlichen dürfen.« Sie schnaubt ärgerlich. »Niemand hat mich gezwungen, die Geheimhaltungsvorschriften zu unterschreiben, dafür bin ich selber verantwortlich. Natürlich hätten sie mich nicht engagiert, wenn ich mich geweigert hätte – also hatte ich keine Wahl. Aber deshalb fühle ich mich kein bißchen besser.«
Ich sage ziemlich unverbindlich: »Ich bin sicher, daß ASR zu geeigneter Zeit alles veröffentlichen wird. Wann war das erste gelungene Experiment? Vor drei Monaten? Ich glaube, Newton hat mit der Veröffentlichung einige Jahre gewartet.«
»Newtons Ergebnisse«, sagte sie bitter, »waren nicht ganz so wichtig wie diese.«
Ich inaktiviere E3, verschmiere, warte – die übliche Routine. Der Versuch, mich zur Ruhe zu zwingen, kostet mich einige Zeit – bis ich erkenne, daß es eher Erregung ist als Angst, was ich fühle. Ein ungewohntes Gefühl; es ist lange her, daß ich etwas so Großartiges unternommen habe (von der Gefährlichkeit einmal ganz abgesehen), ohne daß E3 mich vor jeder seelischen Belastung abschirmte. Bei diesem Gedanken überkommt mich mit einem Mal große Wut: Der kleine Zombie-Pfadfinder hat mich betrogen, hat mir die Hälfte meines Lebens gestohlen… um darin wie ein Schlafwandler umherzuschleichen, ohne es richtig zu leben… aber diesen rührseligen Mist kann ich zum Glück gleich unterdrücken. Der kleine Zombie-Pfadfinder hat mir tausendmal das Leben gerettet – und es war meine Entscheidung, so zu leben. Ich brauchte keine Aufregung, ich wollte nie ein hirnloser Adrenalin-Junkie sein. Er hat mich um nichts >betrogen< als einen frühen Tod.
Und was für eine >Gefahr< erwartet mich jetzt? Ich weiß, daß ich jede Menge Überwachungselektronik überwinden kann. Ich habe bewiesen, daß ich Eigenzustände wählen kann, die so unwahrscheinlich sind, wie das Unwahrscheinlichste, das mich überhaupt erwarten kann. Was sollte ich fürchten?
Ein anderer zu werden.
Ich starre >aus< dem unechten Fenster auf die dunklen Türme der Stadt, von denen goldene Lichtfunken regnen, und sage mir: Die Stadt, die ich heute nacht durchquere, ist nicht die Stadt, die ich kenne. In diesem Neu-Hongkong öffnen sich keine Schlösser von allein, wenden keine Wachen den Blick ab. Ich werde durch eine Traumstadt wandern. Und wie im Traum ist alles möglich.
Ich lache leise. Alles, was es gibt, ja – aber aus der unendlichen Vielfalt werde ich mir nichts anderes aussuchen, als den gewöhnlichsten, einfachsten Einbruch der Weltgeschichte. Es kann nur gutgehen, ohne Probleme, ohne daß ich Schaden nehme. Ohne daß ich ein anderer werde.
Ungesehen durch die Sicherheitsschleuse des dreißigsten Stocks zu gelangen ist eine einfache Übung, ein guter Anfang. Wenn es zum Kollaps kommen sollte in diesem Augenblick, dann ist nichts weiter geschehen, als daß ich meinen Posten für eine halbe Minute verlassen habe – um einen Kollegen um Ablösung zu bitten, weil ich trotz Modul mit einem akuten Darmproblem zu kämpfen habe. Das entspricht nicht ganz den Vorschriften, aber man wird mich deshalb nicht erschießen.
Ich sehe die Wachen an, ein junger Bursche und eine etwas ältere Frau; wie verschämte Kinder wenden sie den Blick ab. Ich frage mich: Haben Sie das Gefühl, daß man sie dazu zwingt? Oder machen sie sich vor, einen Grund dafür zu haben? Das wäre entgegenkommender, als ich mir vorstellen kann – aber letzten Endes in dieser Situation nicht unvorstellbar. Wenn mein verschmiertes Ich einen Zustand auswählte,
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