Quarantäne
wie beim ersten Mal, nur aufschneiden muß ich es nicht: Es öffnet sich von allein, als ich es berühre. Langsam, mit ausgestreckten Händen, schiebe ich mich durch das Labor – hätte ich nur jenen Plan noch in meinem Kopf, der mich damals so zuverlässig um alle Hindernisse geleitete. Ich stoße gegen einen Stuhl, dann gegen einen Labortisch, aber nichts von dem Glasgerät geht zu Bruch. Ich gehe den Korridor entlang, dann ins Treppenhaus. Der Tresor, sagte mir Li Siu-wai, ist im dritten Stock, in einem kleinen Raum hinter Chen Ya-pings Büro. Tatsächlich ist mir nach so langer Zeit, als könnte ich mich an einen blauen Fleck auf dem von Culex erkundeten Plan erinnern, genau an dieser Stelle: keine Daten.
Auf halbem Weg durch das Treppenhaus überkommt mich von neuem Zweifel – so plötzlich, so stark, daß es wie ein Schlag in den Magen ist. Po-kwai ist zwanzig Kilometer entfernt. Sie schläft tief. Wir sind unmöglich >gekoppelt<, unmöglich >verschmiert<, niemand kann mir helfen, irgendeine Wirklichkeit wirklich werden zu lassen, die es nicht schon gibt. Wie konnte ich je auf diesen Quanten-Quatsch hereinfallen? Lui hat mich hereingelegt, das ist alles. Die Liga ist ein Vorwand, um meine Loyalität zu testen. Lui hat meine Module manipuliert, hat dafür gesorgt, daß ich bei jenem Trödler ein manipuliertes Würfelspiel fand. Er hat Po-kwai eingeweiht, steckt mit den Wachen hier und bei ASR unter einer Decke.
Und das Kombinationsschloß? Wie konnte er wissen, daß ich auf Anhieb so etwas Lächerliches wie 9999999999 ausprobieren würde?
Aber wenn er wirklich mit meinen Modulen machen kann, was er will, dann mochte der Himmel wissen, was er sonst noch in meinem Schädel angerichtet hat. Gut möglich, daß Hypernova ihm die absolute Kontrolle über alles, was ich tue und denke, gibt. Dann könnte er mich auch dazu gebracht haben, die richtige Kombination zu erraten…
Ich bleibe an die Wand gelehnt stehen. Was ist denn nun verrückter: an eine Verschwörung zu glauben, für die es keinen vernünftigen Grund gibt – oder im Ernst anzunehmen, daß ich Schlösser öffnen kann, indem ich mich in zehn oder zwanzig Milliarden Kopien meiner selbst aufspalte.
Ich starre vor mich hin in das Dunkel. Und die wahre INITIATIVE, das Geheimnis, für das ich lebe? Ist auch das bloß eine Lüge? Ich weiß, es ist das Ziel, das mir das Loyalitätsmodul vorgibt… ein Produkt einer spezialisierten Gruppe von Nervenzellen, aber…
Ich suche in meinen Taschen nach einer Münze zum Werfen – etwas, das Lui nun ganz bestimmt nicht beeinflussen kann. Ich finde nur die Ersatzbatterie für die Taschenlampe, eine Knopfbatterie mit einem Pluszeichen auf der einen, einem Minuszeichen auf der anderen Seite. Ich kauere auf dem Treppenabsatz, die Taschenlampe wirft einen kleinen Lichtfleck auf den Beton.
»Fünfmal plus«, flüstere ich mir zu, »das genügt.« Das entspricht einer Wahrscheinlichkeit von eins zu zweiunddreißig – nicht gerade ein Wunder, was ich erwarte.
Plus.
Plus.
Ich lache. Was habe ich denn erwartet? Die wahre INITIATIVE wird mich nicht im Stich lassen.
Minus.
Ein merkwürdig taubes Gefühl breitet sich über meinen ganzen Körper aus. Schnell werfe ich wieder, als könnte ich so ungeschehen machen, was passiert ist.
Plus.
Minus.
Ich starre auf den silbernen Knopf. Das endgültige Urteil. Verloren. Aber zugleich weiß ich, daß es nichts ändert. Alles, wofür ich lebe, könnte richtig oder falsch sein. Und sich darüber den Kopf zu zerbrechen ist müßig.
Ich stürme die Treppen hoch, unaufhaltsam in meiner Begeisterung, unverwundbar. Wenn diese fünf Pluszeichen nicht die letzte Spur von Zweifel und Furcht vertrieben haben, dann ist mir nicht zu helfen.
Als ich in Chens Büro bin, schalte ich die Taschenlampe ein – verwundert darüber, daß ich das nicht schon unten im Labor >riskiert< habe. Jetzt, da bin ich absolut sicher, droht keine Gefahr. Ich könnte jedes Licht im Hause andrehen, könnte so laut brüllen, wie ich nur wollte, und niemand würde zur Kenntnis nehmen wollen, daß ich hier bin.
Die Tür, die nicht anders aussieht als die anderen, führt in einen kleinen Raum, in dem der Tresor steht: ein nichtssagendes Gehäuse aus langweiligem grauen Polymerbeton – aber für jedes Werkzeug, für Laser- und Plasmastrahlen schwerer zu bewältigen als ein oder zwei Meter härtester Stahl. Auf der Kontrollkonsole erkennt man das Lesefeld eines Scanners für Daumenabdrücke, ein Tastenfeld
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