Quarantäne
einer Stunde oder zwei wird es ohnehin bedeutungslos geworden sein. Auch wenn sie jetzt leidet: Was für ein Trost könnte die Wahrheit denn sein?
Aber ich überwinde mich und mache mich ans Beantworten ihrer Frage.
Zuerst scheint sie gar nicht zuzuhören – aber schließlich kann sie die Logik meiner Geschichte nicht länger verdrängen, sie durchbricht die geistige Erstarrung durch Schock und Schuldgefühl. Als ich bei der Begegnung mit Laura im Tresor angekommen bin, ist Po-kwai wieder ganz die alte.
»Sie hat das Betäubungsspray zurück in die Flasche gepustet?« Sie nickt, mit dem Anflug eines Lächelns. »Warum auch nicht? Kein Kollaps, keine Asymmetrie der Zeit.«
»Das ist genau das, was Lui sagte.«
»Lui? Wann?«
»Darauf komme ich noch.«
Soweit Po-kwai bekannt ist, hat es in der Nacht meines Einbruchs keinen Bombenfund bei ASR gegeben. Als sie am anderen Tag mit Lee Hing-cheung sprach, erfuhr sie, daß man mich vermisse, aber niemand hätte eine Idee, wo ich geblieben sein könnte. Vielleicht hat man ihr nicht die Wahrheit gesagt – aber es ist genausogut möglich, daß Lui eigenhändig für meinen Kollaps gesorgt hat und die ganze Geschichte nur erfunden war.
Als ich ihr berichte, wie die infektiösen Einzeller freigesetzt wurden und daß ich zu meiner Überraschung dann doch überlebte, sagt sie: »Es könnte ein Irrtum sein, Ihr verschmiertes Ich für alles verantwortlich machen zu wollen. Wie soll es einem Wesen widerstehen, das zwölfmilliardenmal stärker ist als es selber?«
»Was soll das heißen?«
»Der ganze Planet, die verschmierte Menschheit…«
»Aber sie waren doch nicht… damals noch nicht. Der ganze Planet schon gar nicht, nicht einmal jetzt…«
»Nein – aber wenn er es ist oder sein wird, kann sie dann nicht die passende Vergangenheit wählen? Sie wissen doch, was schon ein verschmierter Mensch an Möglichkeiten hat – kann man da ernsthaft bezweifeln, daß ein Amalgam aus zwölf Milliarden Ichs Mittel und Wege findet, sich selbst Wirklichkeit werden zu lassen – Mittel, die wir uns nicht einmal vorstellen können? Diejenigen Ihrer Versionen, die Lui an seinem Werk gehindert haben, kollabierten und könnten nicht Teil dieser neuen Welt werden – nur die Versionen, die versagten. Sie haben sich eingereiht unter diese…« Sie zeigt auf den chaotischen Haufen um uns. »…Tausende verschmierter Leute… und was immer daraus werden wird. ES hat einen Weg gefunden, sich zu realisieren, und es hat Sie dazu benutzt, das ist alles.«
»Ich verstehe.«
Dann ist meine Befreiung vom Loyalitätsmodul, von Karen, also nur ein Witz. Ich bin, der ich bin – nur deshalb, weil ich das Steigrohr war, durch das diese Apokalypse die Menschheit überschwemmen, in die Wirklichkeit eindringen konnte.
Etwas Neues tut sich in der Menge. Gruppen von Menschen bilden sich und kommen sich näher – einige dadurch, daß sie sich an den Händen fassen, während andere, denen das nicht genügt, einfach verschmelzen. Das ist zuviel, mit Grausen wende ich mich ab. Ich kann das nicht sehen, noch nicht.
Ich klammere mich an ein kleines Stückchen Wirklichkeit; ich erzähle Po-kwai, wie ich sie so lange benutzt und getäuscht habe. Sie findet es nicht der Rede wert. »Was hat das jetzt noch zu bedeuten? Ich verstehe, Sie hätten mir gern die Wahrheit gesagt, aber das Loyalitätsmodul…«
»Aber ich habe Ihnen die Wahrheit eben nicht gesagt. Es kommt nicht darauf an, was ich vielleicht getan hätte. Ich habe nur eine Vergangenheit, ich bin dafür… verantwortlich. Ich will es, sie muß mein bleiben.«
Sie lacht ungläubig. »Nick, das alles ist vorbei und vergangen. Es ist unwichtig.«
»Und außerdem habe ich Initiative benutzt – ich habe Ihr Gehirn manipuliert…«
Sie schüttelt müde den Kopf. »Sie haben mein Gehirn nicht manipuliert. Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben, nichts weiter.«
»Was?«
Sie zuckt mit den Achseln. »Ich kann mich nur vage daran erinnern. An Bruchstücke vielleicht. Ich dachte, ich würde träumen… ich wußte, daß ich träume. Wir saßen zusammen vor dem Würfelspiel, und ich habe dafür gesorgt, daß das Ergebnis eintrat, das Sie sich wünschten… und ich wußte, daß das ganz und gar unmöglich war. Aber Sie, Sie haben überhaupt keine Erinnerung daran, nicht wahr?«
»Nein.«
»Gut.« Sie blickt zur Seite.
Ich schaue nach oben, zum Nachthimmel. Ein einsamer Stern ist erschienen. In dem Augenblick, als ich Po-kwai darauf aufmerksam mache,
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