Quarantäne
Wellenpaket – was man Eigenzustand nennt –, das nur eine der beiden Möglichkeiten beschreibt. Man bezeichnet das als >Kollaps der Wellenfunktion<.
Aber was ist so Besonderes am Messen? Wie kann die Wellenfunktion dadurch kollabieren? Wie kann denn ein Meßinstrument, das ebenfalls aus ganz gewöhnlichen Atomen besteht, die alle vermutlich denselben quantenmechanischen Gesetzen gehorchen wie das beobachtete System, aus einer Mischung von Möglichkeiten eine einzige Wirklichkeit werden lassen? Wenn man das Meßinstrument selbst als Teil des gesamten Systems betrachtet, dann ergibt die Anwendung der Schrödinger-Gleichung, daß das Meßinstrument selbst in einen Zustand übergeht, der eine Mischung aus verschiedenen Möglichkeiten darstellt – und das gilt für alles, was mit dem System in Wechselwirkung tritt. Die Phiole mit Giftgas sollte in einen Zustand übergehen, dessen Wellenfunktion einer Mischung aus zerbrochen/nicht zerbrochen entspricht; die Katze sollte sich in einem Zustand zwischen tot und nicht tot befinden. Warum sehen wir also die Katze immer nur in einem Zustand, nämlich tot oder lebendig?«
»Vielleicht weil die ganze Theorie falsch ist?«
»Nein, so einfach ist es nicht. Die Quantenmechanik ist die erfolgreichste wissenschaftliche Theorie aller Zeiten – solange man den Kollaps der Wellenfunktion nicht anzweifelt oder als Widerspruch empfindet. Wäre die ganze Theorie falsch, dann gäbe es keine Mikroelektronik, Laser, optische Computer, Neuromodule… Neunzig Prozent dessen, was die chemische und pharmazeutische Industrie tut, basiert auf diesem Wissen. Die Quantenmechanik hält jeder experimentellen Überprüfung stand – solange man zugesteht, daß es einen höchst besonderen Vorgang gibt, >Messung< genannt, der völlig anderen Gesetzen gehorcht als alles andere.
Wenn man also das Meßproblem der Quantentheorie untersuchen will, dann muß man erst einmal definieren, was eine >Messung< überhaupt ist und was an diesem Vorgang so Besonderes ist. Wann kollabiert die Wellenfunktion? Wann wird das Zählrohr ausgelöst? Wann zerbricht die Phiole? Wann stirbt die Katze? Wann blickt der Beobachter in den Behälter?
Eine Möglichkeit besteht darin, mit den Achseln zu zucken und zu sagen: Die Quantenmechanik kann uns völlig korrekt die Wahrscheinlichkeit unseres Ergebnisses nennen – was kann man mehr wollen? Atome lassen sich nur durch ihre Einwirkung auf wissenschaftliche Instrumente nachweisen; wenn wir also mit Hilfe der Quantenmechanik genau berechnen können, wie oft wir einen bestimmten Effekt an unseren Meßinstrumenten feststellen werden – ob es die Position eines Lichtblitzes ist oder eine Katze, die tot umfällt –, dann haben wir doch immerhin eine gültige Theorie.
Andere Leute haben zu zeigen versucht, daß die Wellenfunktion kollabieren muß, wenn das System eine kritische Größe erreicht – oder eine kritische Energie, einen bestimmten Grad an Komplexität –, und daß jeder Gebrauch eines Meßinstruments zur Überschreitung eben des Schwellenwerts führt. Man versuchte, thermodynamische Ursachen dafür verantwortlich zu machen, oder die Gravitation, hypothetische Nichtlinearitäten, die in den Gleichungen verborgen wären… und so weiter. Nichts davon konnte je etwas zur Erklärung beitragen.
Dann ist da noch die Viele-Welten-Theorie…«
»Alternative Geschichtsabläufe, parallele Universen…«
»Genau. Nach der Viele-Welten-Theorie gibt es überhaupt keinen Kollaps der Wellenfunktion, statt dessen spaltet sich das Universum in mehrere Versionen seiner selbst auf, je eine für jeden möglichen Ausgang des Experiments. In einem Universum gibt es eine tote Katze und einen Experimentator, der eine tote Katze sieht; in einem anderen Universum gibt es eine lebende Katze und einen Experimentator, der die lebende Katze sieht. Die Schwierigkeit liegt darin, daß diese Theorie nicht sagt, warum das alles so und nicht anders geschehen sollte – und auch nicht, an welchem Punkt des Experiments das Universum sich spaltet. Liegt es am Zählrohr, der Phiole, der Katze, am Beobachter? Sie beantwortet eigentlich überhaupt nichts.«
»Vielleicht gibt es keine Antwort, vielleicht ist das alles nur metaphysisches Gebrabbel…«
Sie schüttelt unwillig den Kopf. »Nichts gegen Metaphysik, seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist das durchaus eine experimentelle Wissenschaft. Obwohl, wenn ich’s recht überlege… Mir gefällt der Gedanke, daß sie es
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