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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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entstehender Eigenschaften in semistabilen chaotischen Systemen. Wir verstehen diese Glaubenssätze so, dass sie sich gegenseitig ausschließen, und wir hängen ihnen, je nach persönlicher Neigung, mit religiöser Inbrunst an.
    Ich vermute jedoch, dass sich all diese Beschreibungen in Bezug auf die Eingeborenen von UMa47/E als zwar einerseits nützlich, aber andererseits auch unzureichend erweisen werden. Wir werden zu einer neuen Definition der ›vernunftbegabten Spezies‹ gelangen müssen, einer Definition, die uns und die Eingeborenen umgreift. Und eben dem, scheint mir, sind wir bisher aus dem Weg gegangen.«
    Noch ein Schluck Wasser. War sie zu dicht am Mikrofon dran? In den hinteren Reihen klang es wahrscheinlich so, als würde sie gurgeln.
    »Alles, was wir über die Eingeborenen sagen, impliziert eine neue Perspektive auf uns selbst. Wir werden sie im Vergleich zu uns als mehr oder weniger mutig beurteilen, mehr oder weniger sanft, mehr oder weniger kriegerisch, mehr oder weniger leidenschaftlich – letzten Endes vielleicht als mehr oder weniger geistig gesund.
    Wir werden, mit anderen Worten, unter Umständen gezwungen sein, Schlussfolgerungen über sie, und in der Folge auch über uns, zu ziehen, die uns nicht gefallen.
    Aber wir sind Wissenschaftler, und als solche dürfen wir vor diesen Problemen nicht zurückschrecken. Als Wissenschaftlerin vertrete ich die Überzeugung – ich bin versucht zu sagen: den Glauben –, dass Verstehen besser ist als Unwissenheit. Unwissenheit ist, anders als das Leben, anders als die Erzählung, statisch. Verstehen impliziert eine Bewegung nach vorn und damit die Möglichkeit der Veränderung.
    Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, den Fokus weiterhin auf das Subjekt zu richten.« Solange wir’s noch können, fügte sie im Stillen hinzu. »Noch vor wenigen Monaten konnte man mit guten Gründen behaupten, dass das Leben des Subjekts einem monotonen, sich stets wiederholenden Programm folgte, über das wir alles in Erfahrung gebracht hätten, was sich in Erfahrung bringen lässt. Die jüngsten Ereignisse haben diese Behauptung widerlegt. Das Leben des Subjekts, dessen Struktur wir für rein zyklisch gehalten hatten, ist in hohem Maße narrativ geworden, zu einer Erzählung, die wir vielleicht bis zu ihrem Abschluss verfolgen und aus der wir mit Sicherheit eine Menge lernen können.
    Wir haben bereits eine Menge gelernt. Zum Beispiel haben wir die Ruinen von 33/28 gesehen, eine verlassene Stadt – wenn ich dieses Wort gebrauchen darf – , die offenbar älter ist als die Heimatstadt des Subjekts und sehr verschieden in der Bauweise. Und auch darin deutet sich eine Erzählung an. Es deutet daraufhin, dass die architektonischen Grundsätze der Eingeborenen flexibel sind; dass sie Wissen erworben und angesammelt haben, das sie unterschiedlichen Zwecken entsprechend anwenden.
    Es deutet, kurz gesagt und sofern noch Zweifel bestehen, darauf hin, dass die Eingeborenen in der Tat Leute sind – Wesen, die den Menschen intellektuell und moralisch ähnlich sind – und dass die aussichtsreichste Möglichkeit, ihre Erzählung zu verstehen, darin liegt, sie auf unsere eigene zu beziehen. Auch wenn der Vergleich nicht in jedem Fall schmeichelhaft für uns ausfallen mag.«
    Das war ihr großes Schlusswort. Ihre herausfordernde, aufmüpfige These. Das Problem war nur, dass sich niemand so ganz sicher zu sein schien, ob sie tatsächlich zum Schluss gekommen war. Sie räusperte sich erneut und sagte: »Das war’s, danke sehr«, und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Beifall erhob sich hinter ihr. Er klang höflich, wenn auch nicht gerade überschäumend vor Begeisterung.
    Ari ging ans Rednerpult, dankte ihr und kündigte Ray an.
     
    Sue Sampel saß zwanzig Minuten lang an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer von Rays Büro und vermittelte den in die Wand eingelassenen Videomonitoren einen schwer beschäftigten Eindruck.
    Sie hatte sich ein wenig Arbeit zurückgelegt, um ihre Anwesenheit plausibel erscheinen zu lassen. Nicht, dass es sonderlich viel Arbeit, die diesen Namen verdiente, wirklich gegeben hätte. Diese Berichte waren ja doch ein schlechter Witz: Berichte nämlich, die die tagtäglichen Banalitäten der Betriebsorganisation in Blind Lake dokumentieren sollten und auf deren Verfertigung Ray gesteigerten Wert legte. Diese Berichte hatten keinen anderen Adressaten als einen Ordner mit der Kennzeichnung ZURÜCKGESTELLT – bis wann zurückgestellt, bis zum Ende der Welt? –, aber

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