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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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Prinzip geordnet. Es sieht aus wie statisches Wissen, von genau derselben Sorte, wie wir es über das Subjekt und seine Verwandten sammeln. Doch sogar das periodische System hat etwas Narratives, trägt eine Erzählung in sich. Das periodische System ist eine zentrale Aussage in der Geschichte über das Universum, der Endpunkt einer langen Erzählung über die Entstehung von Wasserstoff und Helium beim Urknall, über die Schaffung schwerer Elemente in Sternen, über die Beziehung von Elektronen zu Atomkernen, über den Atomkern und seinen Verfallsprozess und das Quantenverhalten subatomarer Partikel. Auch wir haben unseren Platz in dieser Erzählung. Wir sind zum Teil das Ergebnis von Kohlenstoffchemie in Wasser – eine weitere im periodischen System verborgene Erzählung –, und das Gleiche gilt, wie ich hinzufügen könnte, für die von uns beobachteten Leute auf UMa47/E.«
    Sie machte eine Pause. Es stand ein Glas Eiswasser auf dem Rednerpult, Gott sei Dank. Marguerite nahm einen Schluck. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen hatte sie bereits einige im Flüsterton geführte Streitgespräche im Publikum ausgelöst.
    »Erzählungen überschneiden sich und streben auseinander, gehen alte und neue Verbindungen ein. Um eine Erzählung verstehen zu können, ist es mitunter erforderlich, eine weitere, eine neue zu entwickeln. Entscheidend ist, dass wir mithilfe des Erzählens verstehen. Durch das Erzählen verstehen wir das Universum, und es ist offensichtlich, dass wir auch uns selbst erst durch Erzählungen verstehen. Ein Fremder mag undurchschaubar oder gar bedrohlich wirken, bis er uns seine Geschichte erzählt; bis er uns seinen Namen sagt, uns mitteilt, wo er herkommt und wo er hingeht. Dies könnte auch für die autochthonen Bewohner von UMa47/E zutreffen. Es würde mich nicht überraschen, wenn auch sie, auf ihre Art, Erzählungen schaffen und austauschen. Möglich auch, dass sie es nicht tun; möglich, dass sie eine andere Methode haben, Wissen zu organisieren und zu verbreiten. Aber ich garantiere Ihnen, dass wir sie nicht verstehen werden, solange wir darauf verzichten, uns Geschichten über sie zu erzählen.«
    Sie konnte jetzt mehr Gesichter im Publikum sehen. Da war Chris, in der Mittelreihe, der ihr ermunternd zunickte. Elaine Coster saß neben ihm, dann kam Sebastian Vogel. Sie nahm an, dass sie alle ihren Server in der Hand hatten, für den Fall, dass Ray unerwartet zur Plaza stürmte.
    Und unten in der ersten Reihe saß Tess, aufmerksam zuhörend. Ray musste sie mitgebracht haben. Marguerite lächelte in Richtung ihrer Tochter.
    »Wir sind Wissenschaftler, natürlich. Wir haben unsere eigene Bezeichnung für eine tastende, vorläufige Erzählung: Wir sagen Hypothese dazu, und wir überprüfen sie durch Beobachtung und Experimente. Und selbstverständlich kann eine jede Hypothese, die wir in Bezug auf die Eingeborenen entwickeln, nur sehr, sehr vorläufig sein. Eine erste Annäherung, eine begründete Vermutung, vielleicht gar ein Schuss ins Blaue.
    Dennoch bin ich der Ansicht, dass wir bisher mit solchen Vermutungen viel zu zurückhaltend gewesen sind. Ich glaube, das liegt daran, dass die Fragen, die wir stellen müssen, um unsere Erzählung zu erschaffen, ausgesprochen beunruhigend sind. Eine jede vernunftbegabte Spezies, auf die wir treffen – und zum ersten Mal in der Geschichte sehen wir eine andere Gattung, die wir mit der unseren vergleichen können –, wird sich auf ihre Biologie gründen. Ein Teil ihres Verhaltens wird, mit anderen Worten, auf ihre genetische Geschichte zurückzuführen sein. Wenn nun aber diese Gattung wirklich mit Vernunft, mit Intelligenz begabt ist, dann wird ein Teil ihres Verhaltens auch willkürlich sein, wird flexibel, wird innovativ sein. Womit nicht gesagt sein soll, dass es sich um eine unfehlbar rationale Gattung handeln muss. Vielleicht ganz im Gegenteil.
    Und hier steckt meines Erachtens die grundlegende Frage, der wir bislang lieber aus dem Weg gegangen sind. Wir hegen allerlei strenge Glaubenssätze über uns selbst. Ein Theologe würde vielleicht sagen, wir seien eine Gott suchende Spezies. Ein Biologe würde sagen, wir seien eine zu hochkomplexen Handlungen fähige Einheit von miteinander zusammenhängenden physiologischen Funktionen. Ein Marxist würde sagen, wir seien Teilnehmer eines Dialoges zwischen der Geschichte und der Ökonomie. Ein Philosoph würde sagen, wir seien das Ergebnis der durch DNA geleiteten Aneignung der Mathematik neu

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