Quarantaene
werden, nicht als Leute. Wir dürfen keinerlei Vorannahmen über sie treffen. Wir dürfen unser analytisches Besteck nicht verunreinigen mit unseren Ängsten oder Wünschen, unseren Hoffnungen oder Träumen, unseren linguistischen Vorurteilen, unseren bourgeoisen Metaerzählungen oder dem kulturellen Ballast imaginierter Aliens. Mr. Spock bleibt vor der Tür, bitte schön, und H. G. Wells in der Bibliothek. Wenn wir eine Stadt sehen, dürfen wir sie nicht als Stadt bezeichnen, oder jedenfalls nur provisorisch, denn die Bezeichnung ›Stadt‹ impliziert Karthago und Rom, Berlin und Los Angeles, Produkte menschlicher Biologie, menschlichen Erfindungsgeistes und über viele tausend Jahre angesammelten menschlichen Sachverstands. Wir rufen uns in Erinnerung, dass die beobachtete Stadt vielleicht gar keine Stadt ist; vielleicht weist sie weit mehr Analogien zu einem Ameisenhügel, einem Termitenstock oder einem Korallenriff auf.«
Als sie kurz innehielt, konnte sie das Echo ihrer Stimme hören, ein tiefer, von der hinteren Wand des Saals zurückgeworfener Nachhall.
»Mit anderen Worten, wir geben uns die allergrößte Mühe, uns nichts vorzumachen. Und im Großen und Ganzen gelingt uns das recht gut. Die Barriere zwischen uns und den Bewohnern auf UMa47/E ist furchtbar offensichtlich. Die Anthropologie lehrt uns, dass Kultur ein Ensemble von gemeinsamen Symbolen ist, und wir haben überhaupt keine Symbole gemeinsam mit den Objekten unserer Forschungen. Omnis cultura ex cultura, und die beiden Kulturen sind, wie wir vermuten, so unvermischbar wie Öl und Wasser. Es gibt keine Überschneidung zwischen unserem und ihrem epigenetischen Verhalten.
Die Kehrseite dieser Einstellung ist, dass wir gezwungen sind, ganz neue Grundlagen festzulegen. Wir können zum Beispiel nicht über eine autochthone »Architektur« sprechen, da wir diesen scheinbar unschuldigen Begriff aller Pfeiler und Stützbalken menschlicher Vorsätze und menschlicher Ästhetik zu entkleiden hätten – ohne welche der Begriff ›Architektur‹ jedoch eine nicht tragfähige, instabile Konstruktion wird. Auch wagen wir nicht, von autochthoner ›Kunst‹ oder ›Arbeit‹, ›Freizeit‹ oder ›Wissenschaft‹ zu sprechen. Die Liste ist endlos, und was übrig bleibt, ist das reine, nackte Verhalten. Verhalten, das in allen Einzelheiten unter die Lupe zu nehmen und zu katalogisieren ist.
Wir sagen, das Subjekt bewegt sich hierhin oder dorthin, führt diese oder jene Tätigkeit aus, ist relativ langsam oder relativ schnell, wendet sich nach links oder rechts, isst dies und das, sofern wir an dem Wort ›isst‹ nicht Anstoß nehmen als einem schleichenden Anthropozentrismus und den Ausdruck ›zu sich nehmen‹ bevorzugen. Es meint haargenau das Gleiche, nimmt sich im schriftlichen Bericht aber besser aus. »Subjekt nahm einen Klumpen vegetabilischer Substanz zu sich.« Tatsächlich hat er eine Pflanze gegessen – Sie wissen es, ich weiß es, aber ein Fachrezensent in der Nature würde es nie durchgehen lassen.« Vorsichtiges Gelächter ließ sich vernehmen. Von hinten schnaubte Ray laut und spöttisch. »Wir überprüfen die Konnotationen eines jeden Wortes, das wir verwenden, mit dem kritischen Instinkt eines Zensors. Alles im Namen der Wissenschaft und oft mit gutem Grund.
Aber ich frage mich, ob wir uns damit nicht gleichzeitig auch blind stellen. Was in unserem Diskurs über die Völker von UMa47/E fehlt, und das möchte ich heute zu bedenken geben, ist das narrative Element.
Die Eingeborenen von UMa47/E sind keine Menschen, aber wir sind es, und Menschen interpretieren die Welt, indem sie Erzählungen entwickeln, die der Erklärung der Welt dienen. Die Tatsache, dass einige unserer Erzählungen naiv, von Wunschdenken geprägt oder schlichtweg falsch sind, entwertet nicht den Prozess als solchen. Wissenschaft ist schließlich im Kern eine Erzählung. Ein Anthropologe, oder auch eine Armee von Anthropologen, mag über Knochenfragmenten brüten und sie nach einem Dutzend oder meinetwegen hundert augenscheinlich trivialen Merkmalen katalogisieren, aber das unausgesprochene Ziel all seiner Arbeit ist eine Erzählung – eine Geschichte darüber, wie die Menschen sich aus der übrigen Fauna dieses Planeten entwickelt haben, eine Geschichte über unsere Ursprünge und unsere Vorfahren.
Oder denken Sie an das periodische System. Das periodische System ist ein Katalog, eine Liste der bekannten und möglichen Elemente, nach einem bestimmten organisierenden
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