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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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immer) gesehen, mussten so tun, als gäbe es keinen Konflikt wegen Tess, mussten so tun, als würden sie einander nicht verabscheuen, mussten den Leuten nicht unbedingt Höflichkeit, aber jedenfalls Indifferenz vorspielen.
    In dem Wissen, dass es jederzeit zu Ende gehen könnte.
    Ein sicheres Rezept für ein Debakel, dachte Marguerite. Hinzu kam, dass ihr »Vortrag« nicht mehr war als eine Reihe von Notizen, die sie nur für sich gemacht hatte, ohne ernsthafte Absicht, sie der Öffentlichkeit zu präsentieren – Spekulationen über das UMa47-Projekt, die an Häresie grenzten. Aber wenn die Krise wirklich so schlimm, so potenziell tödlich war, wie es den Anschein hatte, warum sollte man sich dann noch mit Unaufrichtigkeiten abgeben? Warum nicht, ein einziges Mal in ihrem Leben, das karrierestrategische Kalkül hintanstellen und einfach das sagen, was sie dachte?
    Ein einleuchtender Gedanke, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich bei noch geschlossenem Vorhang auf der Bühne sitzend wiederfand, Lisa Shapiro als Puffer zwischen sich und ihrem Exmann. Sie mied jeden Blickkontakt, konnte aber das geradezu klaustrophobische Bewusstsein seiner Gegenwart nicht abschütteln.
    Er war makellos gekleidet, wie sie schon beim Betreten der Bühne bemerkt hatte. Anzug und Krawatte, messerscharfe Bügelfalten. Ein leichtes, lippenschürzendes Lächeln lag auf seinem Gesicht, akzentuiert von seinen Hängebacken und dem fliehenden Kinn. Er wirkte wie jemand, der etwas Unangenehmes riecht, jedoch versucht, die Form zu wahren. Er hielt einen Stapel Papiere in den Händen.
    Links von ihr befand sich ein Rednerpult, an dem Ari stand und in diesem Moment das Zeichen gab, den Vorhang zu öffnen. Jetzt schon? Marguerite blickte auf ihre Uhr. Punkt eins. Sie hatte einen trockenen Mund.
    Der Saal bot Platz für zweitausend Zuhörer, hatte Ari ihr erzählt. Für die heutige Veranstaltung war eine etwa halb so große Anzahl eingelassen worden, eine Mischung aus Wissenschaftlern, technischem Personal und Gelegenheitsbeschäftigten. Ari hatte seit Beginn der Quarantäne vier solche Vorlesungen organisiert, die durchweg gut besucht und freundlich aufgenommen worden waren. Es war sogar jemand mit einer Kamera da, der Liveaufnahmen für Blind-Lake-TV machte.
    Wie zivilisiert wir uns betragen in unserem Käfig, dachte Marguerite. Wie leicht wir uns ablenken lassen von dem Wissen um die Leichen hinter dem Zaun.
    Jetzt war der Vorhang aufgezogen, die Bühne beleuchtet, das Publikum eine schattenhafte Leerstelle, mehr zu ahnen als zu erkennen. Jetzt stellte Ari sie den Zuhörern vor. Jetzt, im seltsamen Zusammenschnurren der Zeit, das sie jedesmal erlebte, wenn sie vor Publikum sprach, stand Marguerite selbst am Rednerpult, dankte Ari, dankte den Leuten fürs Kommen, hantierte hektisch mit dem Programmaufruf an ihrem Pocket-Server.
    »Die Frage …« Ihre Stimme kippte ins Falsett. Sie räusperte sich. »Die Frage, die ich heute stellen möchte, lautet: Hat uns der rigoros verfolgte dekonstruktive Ansatz in der Beobachtung der Leute auf UMa47/E womöglich in die Irre geführt?«
    Das war trocken genug, um die Nichtfachleute im Publikum schlagartig schläfrig zu machen, aber sie registrierte, dass tiefes Stirnrunzeln sich auf einigen der vertrauten Gesichter aus der Interpretation breitmachte.
    »Es ist eine bewusste Provokation, wenn ich mir gestatte, von den beobachteten Leuten zu sprechen. Von Beginn an haben die Projekte in Crossbank und Blind Lake angestrebt, sich von jeglichem Anthropozentrismus freizuhalten: der Versuchung zu widerstehen, einer anderen Spezies menschliche Charakteristika zu verleihen. Dies ist die Schwäche, die uns anfällig dafür macht, ein Pantherjunges als ›süß‹ oder einen Adler als ›stolz‹ zu bezeichnen, und eben dies tun wir, seit wir gelernt haben, auf zwei Beinen zu stehen. Wir leben jedoch in einem aufgeklärten Zeitalter, wir haben gelernt, andere Lebewesen als das zu sehen und wertzuschätzen, was sie sind, nicht als das, was wir in ihnen sehen möchten. Und die lange und ehrwürdige Geschichte der Wissenschaft hat uns zum Mindesten gelehrt, sorgfältig hinzusehen, bevor wir urteilen – zu urteilen, wenn wir denn urteilen müssen, auf der Grundlage dessen, was wir sehen, und nicht auf der Grundlage dessen, was wir gern glauben würden.
    Und daher, so schärfen wir uns ein, sollte der Gegenstand unserer Forschungen auf 47 Ursa Majoris als bewohnen, als ›Geschöpfe‹ oder ›Organismen‹ bezeichnet

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