Quarantaene
gelang ihm nicht. Dann sagte sie: »Ich bin im Auto.«
»Im Auto? Wessen Auto?«
»Ähm … Mamas.«
»Du gehst erst Montag wieder zu deiner Mutter zurück.«
»Ich weiß, aber …«
»Sie hätte dich nicht mitnehmen sollen. Das war nicht richtig. Das war ganz und gar nicht richtig, dass sie das getan hat.«
»Aber …«
»Hat sie dich gezwungen, Tess? Hat deine Mutter dir befohlen, in ihr Auto zu steigen? Du kannst es mir ruhig sagen. Falls sie zuhört, gib mir einfach einen Hinweis. Ich versteh dich dann schon.«
In klagendem Ton: »Nein! So war es nicht. Du bist weggegangen.«
»Nur für ein paar Minuten, Tess.«
»Das wusste ich ja nicht!«
»Du hättest auf mich warten sollen.«
»Außerdem hast du all diese Sachen gesagt, dass du sie töten willst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich würde deiner Mutter niemals etwas tun.«
»Was? Ich meinte, als du auf der Bühne warst! Du hast darüber gesprochen, Mirror Girl zu töten!«
»Ich habe …« Er brach ab, zwang sich zur Ruhe. Tess war empfindlich und im Moment, dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, ziemlich verängstigt. »Ich habe Mirror Girl gar nicht erwähnt. Du musst mich falsch verstanden haben.«
»Du hast gesagt, wir müssen sie töten!«
»Ich habe über den Prozessor im Auge gesprochen, Tess. Gib mir bitte mal deine Mutter.«
Wieder eine Pause. »Sie will nicht mit dir reden.«
»Sie muss dich zu mir bringen. Das steht in der Vereinbarung, die wir beide unterschreiben haben. Ich muss ihr das klarmachen.«
»Wir fahren nach Hause.« Tess schien den Tränen nahe. »Es tut mir leid!«
»Ihr fahrt zu deiner Mutter nach Hause?«
»Ja!«
»Sie darf nicht …«
»Das ist mir egal! Es ist mir ganz egal, was sie nicht darf! Wenigstens will sie niemanden umbringen!«
»Tess, ich hab dir doch gesagt, ich will nicht …«
Der Server klickte. Tess hatte die Verbindung abgebrochen.
Als er sie erneut anrief, ging sie nicht ran, es kam nur ihre Standardansage. Er versuchte es bei Marguerite. Mit dem gleichen Ergebnis.
»Verdammtes Miststück«, flüsterte Ray. Womit Marguerite gemeint war. Vielleicht sogar Tess, die ihn verraten hatte. Aber nein, halt, stop, das war nicht fair. Tess war irregeführt worden, irregeführt von der Nachgiebigkeit einer sie hoffnungslos verwöhnenden Mutter. Und genau darum ging es bei diesem ganzen Quatsch mit Mirror Girl.
Marguerite verwendete es gegen ihn. Daddy will Mirror Girl töten. Sie indoktrinierte das Mädchen. Ray malte es sich aus, wurde fuchsteufelswild. Man konnte nicht wissen, allenfalls ahnen, was für Lügen man Tess über ihn erzählt hatte.
War also auch Tess für ihn verloren?
Nein. Nein. Unmöglich. Noch nicht.
Er schloss sich in seinem Büro ein, drehte seinen Sessel zum Fenster und erwog, Dimi Schulgin anzurufen. Vielleicht hatte Schulgin irgendwelche Ideen.
Die Aussicht aus seinem Büro war leblos und feindselig. Blind Lake hatte sich daran gewöhnt, ohne Wetterbericht zu leben, aber man musste kein Meteorologe sein, um die Wolken aufziehen zu sehen, niedrige Wolken, mit Schnee beladen, von einem Wind in Sturmstärke von Nordwesten herangetrieben. Eine weitere Fortsetzung in diesem endlosen Winter.
Der fallende Schnee verlieh der Stadt eine täuschende Unbestimmtheit, wie eine Ferrotypie oder ein in Grautönen gemaltes Bühnenbild. Die Fensterscheibe wölbte sich ein wenig unter einer besonders heftigen Windbö, wodurch das Bild leicht verzerrt erschien, wie durch eine Linse betrachtet. Die beobachtete Person – Subjekt – starrte für unbestimmte Zeit auf den herannahenden Sturm.
Als er sich vom Fenster wegdrehte, blieb eine der Gleitrollen seines Stuhls an etwas hängen, das sich unter dem Schreibtisch verbarg. Das Reinigungspersonal wurde nachlässig, aber das war ja weiß Gott nichts Neues. Ein Bogen Papier. Mürrisch bückte er sich, um ihn aufzuheben.
VON: Bo Xiang, Crossbank National Laboratory
AN: Avory Fishbinder, Blind Lake National Laboratory
TEXT: In Beantwortung Ihrer Frage nur so viel: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Trockengebietsgebilde natürlicher Herkunft sind, ist sehr gering. Zwar findet man diese Art von Symmetrie recht häufig in der Natur, doch die Größe der Gebilde und der Präzisionsgrad sind bemerkenswert und lassen eher auf Konstruktion als auf Evolution schließen. Nicht, dass dies ein entscheidendes Argument wäre, aber
Ray brach die Lektüre ab und legte das Papier mit der Schrift nach oben auf den Schreibtisch.
Langsam, sich
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