Quarantaene
bewusst Zeit lassend und ohne sich ein vorschnelles Urteil zu bilden, schloss er seinen Schreibtisch auf und entnahm der untersten Schublade den dicken Stapel der Ausdrucke, die Schulgin ihm geliefert hatte. Flüchtig sah er ihn durch.
Die Seiten lagen nicht in der richtigen Reihenfolge.
Es war wieder jemand an seinem Schreibtisch gewesen.
Ray stand auf. Er sah sein Spiegelbild im Fenster, ein über ein Wolkengemälde geklebtes Porträt, von einem in eine Glasschicht eingefrorenen Mann.
Vierundzwanzig
Das Wetter hatte sich merklich verschlechtert, als Chris, Marguerite und Tess zu Hause ankamen. Vielleicht musste man das positiv sehen, dachte Chris. Es wurde dadurch eine weitere Barriere zwischen Marguerite und Ray gezogen. Falls Ray kommen wollte, um seine Tochter zu holen – oder Rache zu üben –, würde der Schnee seinen Vormarsch wenigstens abbremsen.
Tess hatte nach dem Telefongespräch geweint. Inzwischen waren die Tränen in einen Schluckauf übergegangen, und Marguerite legte ihr einen Arm um die Schultern, als sie sie ins Haus führte. Tess schlüpfte aus ihrer Jacke und ihren Stiefeln und lief dann zum Wohnzimmersofa, als sei dieses ihr ganz spezielles Rettungsfloß.
Mit ihrer Karte schloss Marguerite die Tür ab. »Schieb am besten auch noch den Riegel vor«, sagte Chris.
»Hältst du das für nötig?«
»Ich halte es für klug.«
»Bist du da nicht ein bisschen paranoid? Ray würde nie …«
»Wir wissen nicht, was Ray tun könnte. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
Sie warf den Riegel vor, dann setzte sie sich zu ihrer Tochter aufs Sofa.
Chris borgte sich ihr Büro aus, um die Dokumente auszudrucken, die Sue ihm auf den Server geleitet hatte. Das Arbeitszimmer hatte keine Fenster, aber er konnte den Wind hören, der draußen Wirbel veranstaltete und sich an der Regenrinne zu schaffen machte, als würde jemand mit einem stumpfen Messer daran entlangschaben.
Er dachte an Rays Auftritt im Auditorium. Rays erster Tagesordnungspunkt hatte darin bestanden, sich über Marguerite lustig zu machen, sie zu demütigen, und dabei war er recht clever vorgegangen, hatte seine Wut gezügelt und getarnt. Für einen Mann wie Ray ging es immer in erster Linie darum, die Kontrolle zu bewahren. Doch die Welt steckte voller nicht zu kontrollierender Unverschämtheiten. Erwartungen wurden enttäuscht. Ehefrauen gehorchten nicht und verließen ihn sogar. Seine Theorien wurden widerlegt.
Sein Schreibtisch wurde durchwühlt.
Nach Chris’ Ansicht war das Bedeutsame an Rays kleiner Kernschmelze, dass sie auf persönliche Auflösungserscheinungen hindeutete. Typen wie Ray waren emotional labil, und eben dies machte sie zu den schikanösen Kotzbrocken, die sie waren. Sie lebten immer am Rande des Zusammenbruchs. Und gingen eben manchmal über den Rand hinaus.
Zügig spuckte der Drucker die Seiten aus, alle Dokumente, etwa dreißig an der Zahl, die Sue kopiert hatte. Rays Schatz, wozu immer er gut sein mochte. Chris setzte sich hin und begann zu lesen.
Marguerite verbrachte den grauen Ausklang des Nachmittags an der Seite ihrer Tochter.
Tess hatte sich weitgehend beruhigt, seit sie im Haus war. Aber ihr Kummer war ihr weiterhin deutlich anzumerken. Sie hatte sich aufs Sofa gekuschelt, in ein gestepptes Deckbett eingewickelt wie in einen Gebetsmantel, und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Videobildschirm. Blind-Lake-TV zeigte alte Downloads von The Fosters, einer Kinderserie, die Tess nicht mehr gesehen hatte, seit sie sechs war. Sie hatte die Lautstärke hochgedreht, um den Wind und die harten Schneeflocken zu übertönen, die gegen die Fenster trommelten.
Marguerite saß fast die ganze Zeit bei ihr. Sie war neugierig auf die Dokumente, die Chris ausdruckte und las, aber, mochte es auch seltsam erscheinen, das war jetzt alles nicht so dringend. Für einige wenige Stunden, zwischen Dunkelheit und eigentlicher Nacht, stand die Welt still, ein Ruhepunkt in dem aufziehenden Sturm, und sie hatte kein weiteres Bedürfnis, keinen weiteren Wunsch, als neben Tess zu sitzen.
Kurz nach fünf ging sie in die Küche, um etwas zum Abendessen vorzubereiten. Das Fenster über der Spüle war mehr oder weniger zugeschneit, undurchsichtig wie ein Bullauge in einem gesunkenen Schiff, draußen nichts als undeutliche Umrisse, die sich unter dem Druck der Hoffnungslosigkeit bewegten. War es wirklich denkbar, dass Ray zum Haus kommen und versuchen würde, ihr etwas anzutun? Bei diesem Wetter? Wenn
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