Quarantaene
Gebilde musste ungeheuer alt sein. HR8832/B hatte eine Reihe von schweren, den ganzen Planeten erfassenden Eiszeiten durchlaufen, und mindestens eine von ihnen musste jüngeren Datums sein als dieses Gebilde. Die Ähnlichkeit mit den äquatorialen Korallenschwimmern schien irgendetwas zu bedeuten, aber was genau?
Das freilich waren alles Fragen, die sich, jedenfalls vorläufig, nicht beantworten ließen. Und Chris und Elaine hatten recht: Sie enthielten keinerlei stichhaltigen Hinweis auf eine Bedrohung.
Der Sturm rüttelte am Küchenfenster, während sie sich unterhielten. Wir können Welten abbilden, die um ferne Sterne kreisen, dachte Marguerite; können wir denn keine Fenster konstruieren, die nicht klappern bei schlechtem Wetter? Die tiefe Dunkelheit draußen war einschüchternd. Die Straßenlampen waren zu verschleierten Leuchtfeuern geworden, ferne Fackeln. Es war ein Wetter, das in alten Zeiten Nachrichtenstoff gewesen wäre: Wintersturm blockiert Highways im Westen, Flughäfen geschlossen, Passagiere sitzen fest …
Tessas normale Bettzeit war zehn Uhr, an Wochenenden elf, aber sie kam schon um neun in die Küche und sagte: »Ich bin müde.«
»War ein langer Tag«, sagte Marguerite. »Soll ich dir ein Bad einlassen?«
»Ich dusche morgen Früh. Ich bin einfach nur müde.«
»Dann geh nach oben und zieh dich schon mal aus. Ich komme dann und sag dir gute Nacht.«
Tess zögerte.
»Was ist denn, Schätzchen?«
»Ich dachte, vielleicht könnte Chris mir noch eine Geschichte erzählen.« Sie ließ den Kopf hängen, als wollte sie sagen: Es ist zwar Babykram, aber das ist mir egal.
»Klar, gern«, erklärte Chris sich bereit.
Es würde schwerfallen, diesen Mann nicht zu lieben, dachte Marguerite.
»Was für eine Geschichte möchtest du denn gerne hören?«, fragte Chris, auf Tessas Bettkante sitzend. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen.
»Eine Porry-Geschichte«, sagte das Mädchen.
»Ehrlich, Tess, ich glaube, ich habe dir schon alle Porry-Geschichten erzählt, die es gibt.«
»Es muss keine neue sein.«
»Hast du eine, die du besonders magst?«
»Die Kaulquappen-Geschichte«, sagte sie sofort.
Tessas Schlafzimmerfenster war noch immer nur provisorisch abgedichtet. Kalte Luft kam durch die Ritzen, kroch unter die elektrischen Flächenheizer hindurch und über den Fußboden, auf der Suche nach dem niedrigsten Punkt im Haus. Tess hatte ihre Decken bis zum Kinn hochgezogen.
»Das war noch in Kalifornien«, sagte Chris, »wo wir aufgewachsen sind. Wir wohnten in einem kleinen Haus mit einem Avocadobaum hinten im Garten, und am Ende der Straße war ein Abzugskanal, der bei Regen das Wasser abführte. Man nannte ihn deshalb den Regenkanal. Er war ein großes Flussbett aus Beton, mit einem Drahtzaun davor, um die Kinder fernzuhalten.«
»Aber ihr seid trotzdem hingegangen.«
»Wer erzählt jetzt die Geschichte?«
»’tschuldigung.« Sie zog sich die Decke über den Mund.
»Wir sind trotzdem hingegangen, alle Kinder aus der Nachbarschaft. Es gab eine Stelle, wo man unter dem Zaun durchkriechen konnte. Der Regenkanal hatte steile Betonwände, aber wenn man sich in Acht nahm, konnte man hinunterklettern, und im Frühling, wenn wenig Wasser da war, konnte man Kaulquappen in den Pfützen finden.«
»Kaulquappen sind doch Babyfrösche, oder?«
»Richtig, aber sie sehen noch überhaupt nicht wie Frösche aus. Eher wie kleine schwarze Fische mit langen dünnen Schwänzen und ohne Flossen. An guten Tagen brauchte man einfach nur einen Eimer durchs Wasser zu ziehen, und schon hatte man Hunderte von ihnen gefangen. Die Erwachsenen haben uns immer wieder gesagt, wir sollten nicht beim Regenkanal spielen, weil es gefährlich sei. Und das war es auch, wir hätten wirklich nicht hingehen sollen, aber wir haben es trotzdem getan. Alle außer Porry. Porry wollte auch hingehen, aber ich hab sie nicht gelassen.«
»Weil du ihr großer Bruder warst, und sie war noch zu jung.«
»Wir waren alle noch zu jung. Porry muss damals ungefähr sechs oder sieben gewesen sein, das heißt, ich war also elf oder zwölf. Immerhin war ich alt genug, um zu wissen, dass es für sie wirklich nicht das Richtige war. Sie musste immer am Zaun bleiben und warten, obwohl sie das gehasst hat. Eines Tages war ich mit ein paar Freunden unten im Regenkanal, und vielleicht hatten wir diesmal ein bisschen zu lange im Schlamm herumgestochert, jedenfalls, als ich zurückkam, war Porry müde und frustriert und praktisch am Weinen.
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