Quarantaene
achtete sorgsam darauf, die zarten Eislinien nicht zu beschädigen, die zweidimensionalen Schneeflockenmuster, die wie die Straßenkarte einer elfenhaften Stadt anmuteten. Das Eis war auf der Innenseite des Fensters, nicht außen. Der Winter hatte richtiggehend durchs Glas gegriffen, dachte Tess. Der Winter hatte seine Hand in ihr Zimmer gesteckt.
Lange starrte sie auf die Eismuster. Sie waren wie geschriebene Worte, die ihre Bedeutung nicht preisgeben wollten. Vergangene Woche hatte Mr. Fleischer im Unterricht über Symmetrie gesprochen. Er hatte von Spiegeln und Schneeflocken erzählt. Er hatte der Klasse gezeigt, wie man ein Blatt Papier falten und mit einer Schere Muster in die Falte schneiden konnte. Wenn man dann das Papier wieder auseinanderzog, sahen die aufs Geratewohl gesetzten Schnitte plötzlich wunderschön aus. Waren zu geheimnisvollen Masken und Schmetterlingen geworden. Das Gleiche konnte man auch mit Farbe machen. Einen Klecks auf das Papier setzen und es dann, solange die Farbe noch nass war, in der Mitte falten. Wieder aufklappen und die Kleckse hatten sich in Augen, Motten, Gewölbe oder gezackte Regenbogen verwandelt.
Die Frostmuster auf dem Fenster waren eher wie Schneeflocken, so als hätte man das Papier nicht einmal gefaltet, sondern zweimal, dreimal, vier … aber niemand hatte das Glas gefaltet. Woher wusste das Eis, welche Muster es machen sollte? Hatte es eingebaute Spiegel innen drin?
»Tess?«
Ihre Mutter stand an der Tür.
»Tess, es ist schon nach neun. Heute ist keine Schule, aber willst du nicht aufstehen?«
Nach neun? Tess blickte auf ihren Nachttischwecker. Tatsächlich, neun Uhr acht. Aber war es nicht gerade eben erst sieben gewesen? Kurz entschlossen streckte sie die Hand vor und hinterließ einen schmelzenden Abdruck auf der Fensterscheibe. »Ich komme!« Ihre Hand war augenblicklich kalt geworden.
»Was möchtest du essen?«
»Frühstücksflocken!« Fast hätte sie Schneeflocken gesagt.
Beim Frühstück erinnerte die Mutter Tessa daran, dass sie heute einen Übernachtungsgast erwarteten – »Vorausgesetzt, die Straßen sind bis Mittag geräumt.« Dies fand Tessa ungeheuer interessant. Tessas Mutter arbeitete heute zu Hause, wodurch alles noch mehr wie Wochenende war, abgesehen eben von der Möglichkeit, dass diese neue Person ins Haus kam. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass einige der Besucher und der nicht hier wohnenden Angestellten noch immer in der Sporthalle des Gemeindezentrums übernachteten, was nicht sehr bequem war, und dass die Leute, die in ihren Häusern ein Zimmer frei hatten, gebeten worden seien, dieses zur Verfügung zu stellen. Tessas Mutter hatte ihre Fitnessgeräte, einen Crosstrainer und ein Ergometerfahrrad, aus dem kleinen, mit Teppich ausgelegten Zimmer im Keller, gleich neben dem Wasserkessel, geräumt. Jetzt stand ein Klappbett darin. Tess fragte sich, wie es wohl sein würde, einen Fremden im Keller zu haben. Einen Fremden, der beim Essen mit am Tisch saß.
Nach dem Frühstück ging Tessas Mutter nach oben in ihr Arbeitszimmer. »Komm und sag Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte sie, doch Tatsache war, dass Tess in den letzten Tagen weniger von ihrer Mutter gesehen hatte als üblich. Irgendetwas passierte gerade bei ihrer Arbeit, es hatte etwas mit dem Subjekt zu tun. Das Subjekt verhielt sich seltsam. Einige Leute meinten, das Subjekt sei vielleicht krank. Dieses Problem nahm ihre Mutter vollauf in Anspruch.
Nach wie vor im Nachthemd, blieb Tess noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen und las. Das Buch hieß Aus dem Sternenhimmel. Es war ein Kinderbuch über die Sterne, darüber, wie sie sich gebildet hatten, wie aus alten Sternen neue entstanden, wie Planeten und Menschen aus ihrem Staub herauskondensierten. Als ihre Augen müde wurden, legte sie das Buch weg und sah zu, wie der Schnee sich an der Glasschiebetür auftürmte. Die Mittagszeit kroch heran, aber der Himmel war noch immer dunkel und verschleiert. Sie hätte sich ein Sandwich zum Lunch machen können, aber sie befand, dass sie keinen Hunger hatte. Sie ging nach oben, zog sich an und klopfte an die Tür ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie für eine Weile nach draußen gehen wolle.
»Dein Hemd ist schief geknöpft.« Ihre Mutter kam in den Flur und machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Schließlich zerzauste sie Tessa ein bisschen die Haare. »Geh nicht zu weit weg.«
»Ist gut.«
»Und klopf deine Stiefel ab, bevor du wieder reinkommst.«
»Mach
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