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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Amos trommelt dazu. Mit der Handkante schiebe ich den Sand zu einem Häufchen zusammen. Die Packung mit dem Antibiotikum bohre ich mitten hinein. Ich kichere. Falls Viola jetzt zur Tür hereinkäme, könnte ich versuchen, wie ein Tier den Sand aufzulecken, auf Bauch oder Knien langsam um das Medikament herum. Das wäre dem U-Bahn-Running adäquat, sie spielt mit ihrem verantwortungslosen Leben, ich werde an meinem Mutterdasein verrückt. Vielleicht würde sie wenigstens das erschrecken.
    Ja, Krystyna ist zu beneiden. Sie würde den Dreck zusammenkehren, den Lampion glattstreichen, die Turnschuhe föhnen und dabei an etwas ganz anderes denken. Sie erweitert ihr inneres Fluchtpotenzial. Sie schafft Räume, die nur ihr gehören. Das Verliebtheitsgefühl selbst kann man nicht aufbewahren, es ist ein flüchtiges Edelgas. Manchmal genügen ein Blick oder ein Missverständnis, um es abzustechen wie einen Ballon. Jedenfalls in unserer Situation, wenn man eigentlich nicht berechtigt ist. Wenn die Sache nicht auf Paarbildung, sondern auf Betrug ausgerichtet ist. Siehe Nelson, von dem ich, wie ich ohne großes Bedauern annehme, nie wieder hören werde. Aber zu wissen, dass man sich nicht immerzu bigott beschnitten hat, dass man im Gegenteil einiges Schöne davon gehabt, dass man manchmal geschwelgt und im prickelnden Luxus gelebt hat; daran zu denken, wenn sie einem später den künstlichen Darmausgang legen – das müsste irgendwie tröstlich sein.

Wir leiden darunter und beklagen uns darüber, wir flüstern argwöhnische Fragen, obwohl wir doch nur zu genau wissen, wie die lange Kette der menschlichen Beziehungen abläuft, die lange notwendige Parabel, der ganze lange Weg, den wir zurücklegen müssen, um so weit zu kommen, dass wir ein wenig Erbarmen haben.
    – Natalia Ginzburg –
    8 Die Mutter sagte, sie kenne keine Cafés mehr in der Stadt, und außerdem sei es ihr fast überall zu laut. Sie schlug den Park bei der Uni vor, eine bestimmte Parkbank, deren genaue Lage sie Viola beschrieb. Die Zeit, die sie nannte, war zu früh, doch Viola widersprach nicht. Sie bemühte sich, klar und deutlich zu antworten – den Mund wie normale Menschen beim Sprechen einfach zu öffnen –, etwas, das ihre Stiefmutter ständig von ihr forderte, aber deshalb nie bekam.
    Viola ging nach der fünften Stunde und entschuldigte sich bei dem Arsch von Biologielehrer so höflich, dass er den Rest des Tages darüber rätseln würde. Selbstverständlich werde sie die schriftliche Bestätigung nachreichen. Ihr Vater habe sie bereits geschrieben, nur habe sie sie zu Hause liegen lassen, versicherte sie, sorry, echt, mein Fehler. Das war beinahe zu dick aufgetragen.
    Sie war gut im Unterschriften-Fälschen. Die ausgeglichene Kinderschrift ihres Vaters war besonders leicht nachzumachen. Gegen Bezahlung stellte sie auch fremde Krakel her, zumindest für Freundinnen. Zu Hause unter dem Bett verwahrte sie einen würfelförmigen Scheinwerfer. Auf der beleuchteten Fläche pauste sie die Vorlagen ab, erst vorsichtig und präzise, dann schwungvoller. So lernte sie die Schriftzüge, mit denen sie ihre Freundinnen beeindruckte.
    Die Uni könne sie sich ja schon einmal anschauen, hatte die Mutter am Telefon vorgeschlagen, für den Fall, dass sie sich verspäte. Ich bin diese Reisen mit den U-Bahnen nicht mehr gewöhnt, klagte sie, dauernd nehme ich die falsche Richtung oder steige zu früh aus. Viola fand, dass sie eine angenehme Stimme hatte, jung, spöttisch.
    Doch als Viola in den Park kam, war sie schon da. Aus der Ferne wirkte sie wie ein Mädchen, lange Haare, im Schneidersitz auf der Bank.
    Hi, sagte sie, ich bin Lisa. Ich gehe davon aus, dass du nicht Mama zu mir sagen willst.
    Sie lachte, ohne dass Viola verstand, warum.
    Sie war braungebrannt und dünn, dünner und kleiner als Viola selbst, und das Einzige, was ihr an dem Gesicht dieser Frau bekannt vorkam, waren die Augen, die aussahen wie die ihrer jüngeren Schwester.
    Sie gingen spazieren und unterhielten sich. Die Mutter, Lisa, bot ihr eine Zigarette an, das war so überraschend, dass Viola erst ablehnte. Ob ihre Mutter überhaupt wusste, wie alt sie war? Aber wahrscheinlich war sie aus Indien einfach anderes gewöhnt.
    Ach, gib mir doch eine … Lisa, sagte Viola.
    Sie stellte keine der Fragen, die sie als Kind beschäftigt hatten. Das kann dir nur deine Mutter beantworten, hatte ihr Vater meistens gesagt und dabei hilflos ausgesehen.
    Es war Lisa, die fragte, nach der Schwester, nach der

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