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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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allein nicht bewältigst, abzulenken.
    Wie gesagt, das alles sind nur Vermutungen, Gedanken, die ich mir mache, weil ich spüre, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Und nur deshalb – und dafür entschuldige ich mich von Herzen – bin ich so polemisch geworden, als du neulich wieder die Rede auf deinen Umzug lenktest.
    Ich würde so einen weitreichenden Schritt – den ich dann eines Tages auch Fanny erklären müsste – wirklich gern verstehen, um ihn mittragen zu können. Ich finde, das sollte dir, bei allem Beharren auf deiner Souveränität, schon zu denken geben: dass ich, als dein Sohn, dich plötzlich vollkommen unverständlich finde.
    Bitte versuch es mir zu erklären, auch wenn die Möglichkeit bestehen bleibt, dass ich es trotzdem nicht kapiere. Aber wenn ich das Gefühl bekäme, dass du es nicht aus mutwilligen oder destruktiven Gründen machst, dann – das musst du doch wissen! – wäre ich der Erste, der dich oft und gern in Wien besuchen käme.
    Wenn hingegen ich recht habe mit meinen Zweifeln, wenn meine Rolle vielleicht genau darin besteht, deine eigenen Zweifel zu formulieren, dann finden wir bestimmt gemeinsam einen Weg, wie es dir möglich sein könnte, in unserer Nähe zu bleiben. Vielleicht brauchst du in Berlin eine andere Wohnung? Oder du brauchst irgendetwas anderes, keine Ahnung, was das sein könnte. Man sollte sich aber die Zeit nehmen, das in Ruhe herauszufinden. Bitte überstürze nichts. Bitte sag diesem Makler ab – wenn es wirklich sein soll, findest du eine andere nette Wohnung. Lass uns auf jeden Fall wieder miteinander ins Gespräch kommen, vielleicht erst einmal nur uns beide, ohne Nora oder Viola oder sonst wen. Machen wir ein Feuer und reißen wir eine Flasche Rotwein auf. Oder zwei, höre ich dich sagen. Genau, Mama: oder zwei.

In Liebe

Dein Amos
    *
    Subject: Fanny
    Mama, zehn Minuten, nachdem wir aufgelegt hatten, kam Nora mit ihr nach Hause, und stell dir vor: Es ist eindeutig NICHT das Pfeiffer’sche Drüsenfieber, sondern irgendein anderer Virus. Gott sei Dank! Die Ärztin ist optimistisch, dass es schnell besser wird. Sie schläft jetzt relativ ruhig. Aber vorher hat sie mir etwas erzählt, das ich nicht verstanden habe. Es ging um etwas, das du ihr angeblich versprochen hast, wenn wir das nächste Mal nach Wien kommen. Wir verstanden leider beide nicht, was sie meint. Nora ließ es sie mehrmals wiederholen, aber du kennst sie, sie wird dann schnell wütend. Es ist ihr unbegreiflich, dass wir sie nicht verstehen, weil sie ja überzeugt ist, dass sie makellos spricht. Also: Nora versteht ungefähr »Kugelmugel«, ich habe eher das Gefühl, dass irgendetwas Englisches darin steckt, »Cool-irgendwas«. Ich bin sicher, du weißt sofort, worum es geht. Bitte schreib mir schnell zurück, dann kann ich ihr morgen sagen, dass die Oma es schon hat oder gerade besorgt, was weiß ich, und bestimmt freut sie sich und wird dann schneller gesund.
    –
    Gerade hab ich versucht, dich noch einmal anzurufen, aber du hebst nicht ab. Wahrscheinlich schläfst du schon, oder gehst du neuerdings abends noch aus?
    hugs & kisses,
    amos.
    *
    Re: Re: Subject: Fanny
    Nein, Mama, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern! Ich erinnere mich auch nicht daran, dass ihr es mir je erzählt habt. Ich finde das unglaublich! Wenn Fanny sagen würde, ich kann nicht mehr laufen, keinen Schritt, und auf allen vieren angekrochen käme – den ganzen Morgen lang, sagst du? –, dann würden wir auf der Stelle den Notarzt rufen!
    Dass ein so kleines Kind eine solche Einbildung entwickeln kann… Ich muss es ja wirklich geglaubt haben, oder? In dem Alter kann man sich doch nicht so verstellen? Oder könnte es irgendeine Anregung von außen gegeben haben, eine Geschichte mit einem Lahmen oder im Fernsehen jemand auf Krücken? Das wäre eine Erklärung … Aber dass ich nicht auf die Kindergartenfahrt gewollt habe … Ich dachte, ich hätte diese Fahrten gemocht, also das, was da als verschwommenes Bild ist, glimmt irgendwie positiv, nicht angstbesetzt. Rehe füttern und so. Während du solche Schuldgefühle hattest. Schon witzig, wenn man Jahre später erst das vollständige Bild hat.
    Woran ich mich hingegen genau erinnere, ist, dass du mich einmal (oder öfter?) mit Fieber vom Kindergarten abgeholt und bis nach Hause getragen hast. Obwohl ich – und das hast du mir offenbar ununterbrochen gesagt – schon viel zu schwer für dich war. Ich erinnere mich, wie ein Sack über deiner Schulter zu hängen,

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