Quasikristalle: Roman (German Edition)
werde sie bis zur letzten Minute nicht wissen, ob sie sich wirklich traue.
Das wäre aber sehr schade, sprach es aus Bernays heraus.
Sie sah ihn an und verzog den Mund. Was sie dachte, konnte er sehen.
Für wen, fragen Sie sich, stürmte er also vorwärts und rang um eine überraschende Wendung, na, für Sie und Ihren Onkel, für das, was Sie zwar nicht besprechen müssen, was aber trotzdem da ist.
Onkel. Ein Wort wie Onkel zu dieser jungen Frau. Ihm wurde klar, dass er fliehen musste. Ihr Gesicht schwamm lockend vor ihm durch die verrauchte Luft, aber die Bedeutung ihrer Blicke konnte er nicht mehr entziffern. Das immerhin gestand er sich ein. Beim Sprechen ein Gefühl wie eine lose Zahnprothese. Langsam, als müsse er gähnen, dabei wollte er nur das Lallen vermeiden, fragte er nach einem gemeinsamen Frühstück. Sie nickte schnell, er war also nicht völlig abstoßend. Zehn Uhr, Café Zögernitz. Im Aufstehen strich er ihr über den Unterarm, eine müde, erwachsene Beschützergeste. Dem Rest des Tisches winkte er flüchtig zu, eilte hinaus, beglich an der Schank seine Rechnung, nahm die zwei Glas Wein des Mädchens in erneutem Überschwang hinzu, warf sich draußen in ein Taxi und begann mit seinen Schamgrimassen erst, als der Wagen um zwei Ecken war.
Er erwachte mit Kopfschmerzen, als das Telefon klingelte. An dessen spezielle Konstruktion hatte er sich noch nicht gewöhnt, der Hörer war irgendwie eingehakt, sodass er, zumal verschlafen, beinahe den Apparat zu sich ins Bett riss. Es war Pauline, die Kinder längst in der Schule, Andrej im Institut, und bestimmt war ihr Mund makellos geschminkt. Ihre Lobbyarbeit begann erst später. Bernays fasste sich aus Gewohnheit an den Schwanz, doch es flammte eine Rote-Blusen-Erinnerung auf, und er zog die Hand zurück. Er gab eine Schilderung seiner Reisegruppe, ohne Xane, so boshaft, wie er nur konnte.
Keine interessanten Frauen, fragte Pauline, du verheimlichst mir etwas.
Bernays schüttelte ertappt den Kopf, aber seine Stimme blieb unverdächtig, wie frisch geölt. Ja, sagte er, du hast recht, die Kampflesbe wäre natürlich eine Sünde wert. Glaubst du, sie behält im Bett die Schuhe an?
Später probierte er im Bad, wie lange er sein Gesicht in absurd verdrehter, halbgeduckter Haltung im eiskalten Wasser des Waschbeckens versenken konnte. Denn er hatte Schwellungen und Rötungen entdeckt, im Gesicht des alternden Idioten, der er war, und dem mit einem Mal ein fremdes, viel zu junges Blusenmädchen wie die letzte Rettung erschien. Ich war betrunken, versuchte er sich zu beruhigen, ich war verzweifelt, ich habe eine Midlife-Crisis – und sie ist Rozmburks Nichte! Da lachte er laut, so allein im Hotelzimmer. Das Abschwellwasser war rötlich, ein Abglanz sowohl der Bluse wie seiner Hautfarbe, dabei verabschiedete sich vermutlich nur das Henna, nach bloß einer Woche. Bernays betrachtete sein Gesicht, die ersten geplatzten Äderchen, so schlimm war es nicht. Man könnte mich vielleicht doch lieben, dachte er, vielleicht ist meine Lächerlichkeit in anderen Augen charmant. Und da schien ihm, so freundlich habe er über sich schon lange nicht mehr gedacht, sehr lange, wahrscheinlich nicht mehr, seit er Paulinchen stieß.
Auf dem Weg ins ›Zögernitz‹ verlief er sich zweimal, und der zweite Passant, den er ansprach, machte ihm ein unfreiwilliges Kompliment, als er mit abfällig geschürzten Lippen fragte: Wo sind Sie denn her? Aus Graz?
Es war ein erster Frühlingstag, und alles fühlte sich danach an, noch kühl, aber untendrunter im Werden.
Xane stand im Mantel mitten im Café. Sie lächelte ihm entgegen, wedelte mit den Armen, weil kein Tisch frei war, verdrehte die Augen, als ein Kellner sie fast umrannte, und überließ Bernays selbstverständlich ihre Wangen, erst die eine, dann die andere. In Frankreich drei, beharrte er, und sie hob das Kinn, bot noch einmal die rechte Wange und sagte wie zur Vergeltung: Aber meine Rechnung kann ich selber zahlen.
Sie bestellte zwei Eier im Glas und pries die Arbeit, die man sich in Wiener Kaffeehäusern damit machte: Versuchen Sie einmal, ein weichgekochtes Ei zu schälen, ohne dass es reißt. Bernays konnte kaum hinsehen, diese glatten weißen Kugeln in einem kleinen Glaspokal, mit Schnittlauch bestreut. War das die menschliche Größe dessen, woran es ihn erinnerte, oder machte er sich wieder einmal zu große Hoffnungen? Sie stach gnadenlos hinein, und Dotter floss. Sie sprach ihn, ihm schien, leicht ironisch, mit
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