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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Kabasta musste wissen, dass Rozmburk keine Geschwister hatte, dass keines seiner Geschwister überlebt hatte und dass es bei Gisèle genauso war. Aber was wusste schon Kabasta!
    Am letzten Abend vor der Abreise, im Hinterzimmer eines landestypischen Beisls, führte Bernays auf zwanglose Weise das große Wort. Dabei sonnte er sich in Marios leidender Bewunderung, parierte maliziös die Fragen des Herrn Architekten und ließ sich von Fraukes Gelächter berieseln. Jürgens kollegiale Zurückhaltung störte nicht weiter, der englische Schriftsteller wiederum schien unter Alkoholeinfluss etwas aufzutauen. Der alte Journalist saß am anderen Ende des langen Tisches und kümmerte sich väterlich um Uschi und Muschi, die anderen Studenten tranken irgendwo dazwischen still ihr Bier.
    Irgendwann fiel der Name Kabasta, und weil er seinen Groll für eine allseits bekannte und gerechtfertigte Tatsache hielt, erboste es Bernays, dass ihm nicht sofort eine Flut ehrenrühriger Gerüchte serviert wurde. Die Studenten waren zurückhaltend, der Vorgänger sei viel schlimmer gewesen. Bernays ärgerte sich und versuchte, es zu verbergen. Der Wiener Weißwein, dies pfeffrige, säuerliche Getränk, putschte ihn auf. Nun schwang er sich wenigstens verbal zum Ehrenretter der beschuldigten Sekretärin auf, die er kleiner, dümmer und unschuldiger machte, als sie selbst es sich hätte gefallen lassen.
    Die Studenten schwiegen, Mario schwieg, der Herr Architekt hatte sich ein spätes Gulasch bestellt und schwieg, weil er den Mund voll hatte. Bernays schimpfte in eine ablehnende Stille hinein und hörte sich selbst wie auf Band. Als er, mitten im Satz, einen Schluck Wein nahm, kicherte Frauke: Aber er hat mir so schön die Hand geküsst. Sie sah erhitzt aus. Wenn an einem so großen Mund der Lippenstift verläuft, ist das äußerst ungünstig, dachte Bernays. Tomatenroter Lippenstift. Ein Clown. Es gibt Frauen, die als Clowns geboren werden. Als plappernde Kumpel. Sie finden später schweigsame Männer, die Windjacken zum Bürstenschnitt tragen und die, gemeinsam mit ihren pferdestehlenden Clown-Frauen, ihr Leben lang nicht erfahren, was die Liebe wirklich ist, wie hysterisch, widerlich, grausam, göttlich und vernichtend sie sein kann.
    Die Hand geküsst. Hier tat sich eine Möglichkeit auf, die Bernays lange nicht mehr in Betracht gezogen hatte. Eine Fähigkeit, die mit seiner österreichischen Mutter zu tun hatte, an die er ungern dachte. Ob er es noch konnte? Den typischen Wiener Akzent nachahmen, mit all den singenden Hebungen und Senkungen, dem klebrigen Auseinanderziehen mancher Silben und dem bewussten Verschlucken anderer? Das subtile Streuen von wenigen, aber harten Dialektworten über das, was diese Leute für eine Hochsprache hielten, aber in Wahrheit nur besser artikuliertes Österreichisch war? Das, was ihm, gerade bei Kabasta, wie parfümiertes Gewimmer vorkam, das, worüber seine Mutter früher manchmal so hatte lachen können?
    Es war egal. Er hatte hier nichts zu verlieren. Die Kabasta-Schelte nahmen sie ihm übel, so bildete er es sich ein. Er wollte sie zurückgewinnen. Er verwandelte seine kleinherzigen Beschwerden in eine ironische Darbietung, die mehr Raum für Sympathie ließ. Er spielte Kabasta, den ganzen Monolog und viel mehr, er näselte, summte und seufzte, unverzeihliche sekretariale Eigenmächtigkeit, diese junge Dame da, und daaas – aufspringen, ausgestreckter, vor Indignation zitternder Zeigefinger – ist das Ergebnis: sieben von dreißig, aber wir kennen keine Probleme, wir kennen nur Herausforderungen. Er übertrieb, und er hob ab. Er war wieder das Kind, das seiner Mutter den gschamsten Diener vorspielte, wenn sie plötzlich so traurig war, jenes Kind, dem zur Belohnung in Aussicht gestellt wurde, dass es bald nach Wien reisen werde, wo es sich im Kaffeehaus so viele Kuchen und Torten bestellen dürfe, wie es wolle, ja, das verspreche ich dir, von mir aus so viele, bis dir schlecht wird, egal, wir speiben dort auf den Boden und gehen, diesmal reiben sie selber auf. Es kam nie dazu.
    Er hatte sie in der Hand, sie kicherten, sie amüsierten sich. Aber erst als der fade Schriftsteller am einen und der sonst so bedrückte Schurl Slezak am anderen Ende des Tisches abwechselnd ziemlich ausgefallene Lachlaute hören ließen – der eine röhrte wie ein in einem Schacht gefangener Hirsch, der andere quietschte wie eine Gummisohle auf nassem Boden –, kippte die Stimmung ins Ausgelassene.
    Am Ende seiner Darbietung

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