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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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am Marktplatz der Stadt. Denn dies war, auch, ein ganz normales Städtchen, kein finsteres Weltende. Es war kein schwarzes Loch. Es war nicht der Anti-Ort schlechthin, das mussten sie als Erstes begreifen. Dass auch hier Kinder geboren wurden und Blumen verkauft. Breitbeinig, die Daumen in den Gürtelschlaufen, stand er da und spulte seine Erzählung ab, die wie alles, was er in den kommenden Tagen sagen würde, auf das Unterhöhlen vorgefertigter Gefühle zielte. Die blühende jüdische Gemeinde des neunzehnten Jahrhunderts, ein weit nach Europa hineinstrahlendes geistiges Zentrum, das sogenannte Oświęcimer Jerusalem. An dieser Stelle ähnelten sich die Gesichter aller seiner Gruppen, sie sahen drein, als hätten sie auf etwas Verdorbenes gebissen, wofür sie am liebsten denjenigen verantwortlich gemacht hätten, der ihnen diese Details servierte. Während sie spürten, dass das zu einfach war.
    Er sprach weiter, Zahlen, Daten, historische Wendungen, die nur retrospektiv absurd klangen, wie jene, dass die Ersten, die dem geplanten Nazilager und dem Wohnraumbedarf seiner Wachmannschaften hatten weichen müssen, die ortsansässigen Auschwitzer Juden gewesen waren, die zuerst in die Ghettos von Bendsburg und Sosnowitz deportiert wurden, um dann, als alles fertig war, zurückgebracht und sozusagen zu Hause ermordet zu werden.
    Auf einer zweiten, freien Gedankenspur sann er über Xane nach. Wie und wo er ein kleines Loch in sein Survivalkostüm schneiden konnte, nur für sie. Gestern im Zug hatte sie, als die anderen vor dem Abteil rauchten, kurz den Kopf an seine Schulter gelehnt, nachdem er seinen Apfel mit ihr geteilt hatte.
    Erfolgreiche jüdische Schnapsbrennereien, wie die bekannteste von Jakob Haberfeld , sagte er gerade, als ihm auffiel, dass die Aufmerksamkeit von ihm weggeebbt war. Irgendetwas war hinter ihm, das sie ablenkte. Er versuchte, die Gruppe mit Blickkontakt zu sich zu zwingen. Mario sah fest zurück, aber seine Mundwinkel zuckten. Der Herr Architekt bildete rosa Flecken auf den Wangen aus. Xane stand an der Seite, den Schal bis ans Kinn, fixierte ihre Fußspitzen und wippte vor und zurück. Der Schriftsteller nickte ihm gütig zu, quasi von Vaterfigur zu Vaterfigur. Schurl Slezak wirkte besorgt. Einige der Studenten, darunter die drei Mädchen, schauten ihn an, ohne ihn richtig zu sehen, als hielten sie die Augen krampfhaft von etwas anderem weg. Die Übrigen waren so abgelenkt, dass sie sich nicht einmal mehr den Anschein gaben, zuzuhören. Da hob Xane die alte Nikon, die sie um den Hals trug, vor ihr Gesicht und richtete sie auf ihn. Sie stellte ein paar Sekunden lang scharf, drückte ab, einmal, zweimal, dreimal, Gelächter platzte auf, unterdrückt und hysterisch, er kannte das ja. Aber jetzt schon, und hier?
    Bernays brach mitten im Satz ab und drehte sich um. Hinter ihm, sechsbeinig im flachen Brunnenbecken, koitierten zwei Straßenköter, so kreatürlich hektisch und selbstvergessen, wie sie fressen und ausscheiden, egal, wo sie sind.
    Bernays schloss einen Moment die Augen. Die Gruppe in seinem Rücken war still, die gespannte Aufmerksamkeit wieder ganz bei ihm. Er wandte sich ihnen zu und sagte: Wenn man das sieht, könnte man es sich abgewöhnen. Dabei sah er nur Xane streng und herausfordernd an und jubelte innerlich darüber, wie gepeinigt sie aussah. Dann ging er einfach los in Richtung Stammlager, so schnell er konnte, und seine beschämte Gruppe lief ihm eilig hinterher.
    Er nahm einen Seiteneingang und kam von hinten auf das Krematorium I zu. Sie hatten wahrscheinlich gar nicht recht begriffen, dass sie schon auf dem Gelände waren, denn sie arbeiteten sich noch mit angestrengtem Sarkasmus an Himmlers Sauna ab, auf die Bernays sie im Vorübergehen aufmerksam gemacht hatte. Der Reichsführer-SS hatte sie aus Finnland importieren lassen, überzeugt von der segensreichen Wirkung, die das Saunieren auf Körper und Geist hatte. Inzwischen diente sie, in einem ungepflegten Vorgarten, als Hühnerstall. Dieser kleine Holzschuppen führte zu den üblichen Gedankenspielen und Zoten. Einer erzählte von einem ›Tatort‹, wo eine Saunatür von außen zugestellt worden war, und dass man habe sehen können, wie ein dicker Mann mit rotem Kopf vergeblich versuchte, von innen die Scheibe einzuschlagen. Die Ähnlichkeit der Bilder übersahen sie in ihren kindlich-befreienden Rachegefühlen. Nichts, was man hier denken konnte, war unschuldig.
    Noch einmal um die Ecke, und da war er, der

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