Quasikristalle: Roman (German Edition)
Hintereingang, sie stolperten hinter ihm drein, und während sie ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnten, erkannten die Ersten die Verbrennungsöfen, vor denen ein paar rote Grablichter flackerten. Sind alle da, fragte Bernays, das Zeichen für den Herrn Architekten, noch einmal zum Eingang zurückzugehen und sich davor als Wegweiser aufzustellen.
Xane kam, mit dem alten Sportreporter plaudernd, er fasste sie warnend am Arm, sie lachte, als sie über die Schwelle trat, dann sah sie auf, erblickte Bernays, schaute ihn verwundert an, sah sich um und machte einen winzigen Schritt, eigentlich nur eine Andeutung davon, rückwärts.
Bernays war klar, dass sie sich auf ihn stürzen würde, und freute sich beinahe darauf. Sie war einerseits so rätselhaft, wie ihm alle Frauen waren, jedenfalls die paar, für die er sich interessierte. Doch in einer bestimmten Hinsicht lag sie für ihn offen wie ein Buch. Ein paar Sätze am ersten Abend hatten genügt, über ihren Hintergrund und ihr Zögern, mitzufahren, und er konnte ihr weiteres Verhalten halbwegs vorausberechnen. Ein klassischer Fall halbjüdischer Doppelhelix, wie er das bei sich nannte, ein schwer auflösbares Geflecht aus Angst, Schmerz über unklare Zugehörigkeit, ironischer Distanzierung und Selbstüberschätzung auf der Suche nach der angemessenen Haltung. Das war sehr viel anstrengender als der eindeutige, manchmal ziemlich selbstgerechte Zorn der meisten jungen Israelis, viel verworrener als noch die verzweifeltste, tränenseligste Scham der meisten älteren Deutschen. Er, Bernays, Sohn des ehemaligen Partisanen Jan Biernacki und dessen jüdischer Frau, kannte das genau. Er hatte diesem Ort sein Leben gewidmet, weil er das Geflecht so gut kannte. Mittels harter Arbeit wollte er es zumindest vom Wuchern abhalten. Kleinkriegen ließ es sich nicht. Vielleicht hatte er Xane deshalb gleich so anziehend gefunden wie eine Droge, ein Spiegelbild, nur fünfzehn Jahre jünger. Wenn das der Grund war für diese sonnige, wie beschwipste Aufregung, die ihn ergriff, sobald er morgens die Augen aufschlug und an sie dachte, dann war es kein schlechter. Er wusste schon lange, dass es zwischen den Menschen Unüberwindliches gab, das man an diesem Ort sichtbar machen konnte wie nirgendwo sonst. All die ihm bekannten deutsch-jüdischen Ehepaare, die ihr Hitler-überwindendes Glück ausstellten, funktionierten nur, weil sich der deutsche Partner wollüstig in eine lebenslange Büßerhaltung begab! Die niemals zustande gekommenen Ehen, die Missverständnisse, die Trennungen und all die scheidungsgenerierten Antisemiten hatte keiner je gezählt. Und deshalb hatte Pauline, diese Enkelin eines Rabbiners, diese Tochter eines Kantors, Andrej Sussman geheiratet und nicht ihn. Obwohl sie ihm hingebungsvoll die Eisbeutel gereicht hatte, damals, an jenem erniedrigenden Wochenende nach seiner Beschneidung, und obwohl sie bis heute erfreut war, um wieviel länger er seither konnte.
Herr Professor, inszenieren Sie das hier als Geisterbahn, fragte Xane, und Bernays bewunderte den Instinkt, mit dem sie zum tiefgefrorenen ›Sie‹ zurückkehrte. Der Sportreporter berührte sie noch einmal am Arm. Sie fuhr zu ihm herum und zischte: Das macht er absichtlich. Er will uns kleinkriegen.
Bernays ging zu ihr und nahm ihre Hand, die sie ihm, er spürte es, am liebsten weggerissen hätte. Komm, sagte er und zog sie langsam zum anderen Ausgang. Die anderen fluteten hinterher wie eine trauernde Schafherde. Von dem kleinen Vorraum aus zeigte er durch die nächste Tür in einen größeren Raum, der voller Menschen war, Kameras, Lärm, zwei Führungen, eine auf Englisch, die andere auf Ivrit. Junge Israelis, in Blau-Weiß, dazu Fahnen. Einige hielten sich an den Händen und summten eine klagende Melodie.
Hättest du da durchwollen?
Xane stand stocksteif. Mit beiden Händen schüttelte er ihren Arm, wie um sie aufzulockern.
Können wir weitermachen?
Als sie nickte, gingen sie alle zurück, Bernays verschränkte für die paar Schritte, im Rücken der anderen, seine Finger mit ihren, als wären sie schon ein Liebespaar, und anschließend sprach er eine Weile über die Methoden der Holocaust-Leugner, das war für alle entspannend, weil so zweifelsfrei indiskutabel wie Himmlers Sauna.
Beim Mittagessen setzte er sich zu ihr, Mario und dem Herrn Architekten an das Tischende. Die beiden beschatteten Xane, seit sie begriffen hatten, dass das eine Methode war, um nah am Professor zu sein. Beim Herrn Architekten
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