Quasikristalle: Roman (German Edition)
stand Bernays auf, verbeugte sich, holte einen weiteren Stuhl aus einer Ecke, hob ihn an zwei Beinen schwankend über seinen Kopf und schrie: Und hier unser unbekannter Stargast – die Nichte von Rozmburk! Er ließ den Stuhl herunter, zeigte darauf, als würde er einer Prinzessin den Thron zurechtrücken, setzte sich und genoss den Applaus, der allem, nur nicht der Schluss-Pointe galt, die außer Mario niemand verstand.
Aber dann stand tatsächlich eine da, eine junge Frau in Jeans und einer dunkelroten Bluse, die schmal und doch so lose über ihre Hüfte fiel, dass sie die Schlankheit eher betonte als verbarg. Sie stand da, im Halbdunkel, und kniff die Augen zusammen. Sie hätte ein Gast aus dem Hauptlokal sein können, verirrt auf der Suche nach der Toilette, oder eine Hilfskellnerin, bloß dass die Bluse dazu nicht passte. Sie trat auf Bernays zu, dem noch gratuliert wurde, der gerade Auskunft über die Herkunft dieses österreichischen Tonfalls geben sollte, den er übergestreift hatte wie einen Maßanzug, da trat das fremde Mädchen in den Kreis und fragte: Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Professor Bernays?
Da er sich erst von Fraukes Lippen abwenden musste, trug er einen grellen, angeheiterten Ton in seine Antwort hinein: Wenn Sie die Nichte von Rozmburk sind?
Ein etwas zu langer, nachdenklicher Blick machte ihm zu seiner Bestürzung klar, dass sie genau die war, wie auch immer sie zu der Bezeichnung gekommen sein mochte. Dass der Scherz, den er auf Kosten einer Ahnungslosen hatte machen wollen, auf die Eingeweihte peinlich wirkte.
Rozmburk hat keine Nichte, sagte sie kühl, setzte sich aber auf den freien Platz, ich bin eine Art Patenkind.
Jetzt kann die Reise losgehen, dachte Bernays, und sein Hochgefühl kehrte zurück, in einer wärmeren, weniger giftigen Farbe. Rozmburks Nichte existierte nicht nur, sie war außerdem die Frau, die so dringend gefehlt hatte. Ein Geschenk in einer roten Bluse. Denn alles Nötige hatte er erfasst. Sie war hübsch, auf eine Weise, die ihr selbst wahrscheinlich kaum bewusst war. Bernays mochte schlanke, im Ganzen irgendwie bräunliche Frauen mit hellen Augen, solche, die ihn an die zwanzigjährige, längst in Fleisch und Make-up versunkene Pauline erinnerten. Dieses Mädchen hier war jung, aber sein Auftreten sagte ihm, dass es keine Studentin mehr war. Sie war schon selbst irgendjemand, wer, das würde er herausfinden.
Er rückte vom Tisch weg und drehte seinen Stuhl in ihre Richtung. Er machte Wind um sie, um von sich selbst abzulenken. Seine Vorstellung war ihm plötzlich unangenehm. Mochten die anderen ruhig glauben, er habe diese Frau erwartet. Was möchten Sie trinken, fragte er, und stand, als sie einen Wunsch geäußert hatte, auf, schlenderte hinaus und holte an der Schank das Getränk. Dafür wurde er bei seiner Rückkehr mit einem großen Blick belohnt. Er hoffte, dass er nicht betrunken war, und wenn, dass sie es nicht merkte. Aber natürlich, die Wienerinnen, die hatten Erfahrung damit. Das konnte ein Vor-wie ein Nachteil sein. Wahrscheinlich würde sie es merken, genauso wahrscheinlich wäre es ihr egal. Hier waren alle immer im Öl, aber nur, wer es erwähnte, galt als betrunken.
Sie selbst trank hastig zwei Gläser Wein. Anfangs war sie zurückhaltend, doch bei der ersten längeren Antwort wurde sie lebhaft. Als sie ums Haar sein Glas umgestoßen hätte, setzte sie sich auf ihre Hände wie ein geniertes Kind. Sie schien mit ihrem Temperament zu hadern; ein stummer Kampf mit einer unbeherrschbaren Kraft. Ein bisschen kratzbürstig kam sie ihm vor, an manchen Stellen, oder vielleicht nur: angeraut. Das Gegenteil von den so ebenmäßig draufloslachenden Amerikanerinnen damals, oder von Frauke. Sie hieß Roxane.
Der Vorname einer persischen Königin. Sagte er.
Und sie erwiderte: Schön, dass Sie mir nicht mit The Police kommen.
Ein Punkt für ihn. Später pflückte sie von einem herrenlosen Teller kalte Pommes frites und winkte errötend ab, als er ihr die Karte reichte. Rozmburks Patenkind also. In keinem religiösen Sinne, erklärte sie, eher ein selbsterfundenes linkes Zeremoniell, wahrscheinlich haben sie mich als Baby mit Bier benetzt. Mit ihm und seinen Gruppen habe sie niemals dorthin fahren wollen. Um eine Einzelführung habe sie ihn erst recht nicht gebeten. Aber jetzt, da Rozmburk krank sei, wer weiß, wie sehr, dränge es sie auf einmal, zu fahren. Sie habe es ihm gar nicht erzählt. Vielleicht sei es nur Abwehrzauber. Und wahrscheinlich
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