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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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auch die anderen akklimatisiert, und Teile der Gruppe erwachten zum wissenschaftlichen Leben. Der Herr Architekt hatte erwartungsgemäß viele Fragen, aber auch Frauke und Jürgen, die beiden deutschen Kollegen, interessierten sich mit einer verräterischen Akribie für die kleinsten Details. Sie fragten, also funktionierten sie noch.
    Bernays sprach über Konservierung und Renovierung, die hier noch viel umstrittener waren als anderswo. Über den Schaden, den gutgemeinte, aber falsche Rekonstruktionen kurz nach dem Krieg angerichtet hatten. Auch, weil die Kommunisten im Kalten Krieg nicht zugeben wollten, was sie, und warum, rekonstruiert hatten. Er sprach über die schweren Konflikte zwischen den Polen und jüdischen Gruppen, vor allem amerikanischen. Über den weltweiten Aufruhr, als sie in Washington für eine Ausstellung eine kleinere Menge Original-Haar haben wollten. Über den täglichen Balanceakt zwischen Museum und Friedhof.
    Er wurde müde und stumpf, wenn er nur daran dachte, an all die Querelen und Kämpfe, an die unzähligen Ausschüsse, in denen er selbst gesessen war, seit Rozmburk nicht mehr konnte, wo sich die Parteien unversöhnlich angifteten, jede in der festen Überzeugung, im alleinigen Auftrag der Toten zu handeln.
    Er bat darum, alle Fragen zu den genauen Abläufen von Vergasung und Leichenverbrennung auf den nächsten Tag, auf Birkenau, zu verschieben, obwohl Frauke nicht abließ, immer wieder in diese Richtung zu bohren. Zehntausend, approximately , gab er schließlich seufzend für Krematorium I an, unvorstellbar, einerseits, aber ein Klacks im Vergleich. Er wusste, dass Zahlen ihnen manchmal halfen, Baupläne und Zeichnungen, das war zwar konkret, aber trotzdem viel abstrakter als die Koffer oder Kinderschuhe. Und wieder zeigte sich, dass vor allem die Älteren zu ihm drängten wie unter die Flügel der Glucke. Der Sportreporter Slezak hielt sich dicht bei ihm, obwohl er nichts fragte, sondern nur stumm den Kopf schüttelte, fast ohne Pause. Bernays, der geglaubt hatte, er sei längst auf alles gefasst, ließ sich nach einer Weile doch davon irritieren.
    Kann ein Mensch stundenlang den Kopf schütteln, ohne Schaden zu nehmen?
    Eine Frage, die Mengele sicher interessiert hätte.
    Wenn man länger hier war, schafften es die Assoziationen einfach nicht mehr aus dem Referenzraum hinaus. Irgendwann würde das auch Xane verstehen. Deshalb wolltest du ja gar nicht erst kommen, wegen dieses Zynismus, mit dem man sich schützt. Ich mich schütze, nicht man. Allen sage ich, dass sie nicht dauernd ›man‹ sagen sollen, wenn sie hier sind, sondern ich, ich, ich. Xane, wenn du erst einmal öfter, zusammen mit mir, hier gewesen bist, dann wirst du verstehen … Vielleicht brauchst auch du einen Anorak. Er würde dir stehen. Du bist sowieso zu hübsch, trotz deiner dauernd gekrausten Stirn, du weißt es gar nicht. Der Anorak würde deine Tulpenhaftigkeit ein bisschen verbergen, gleichzeitig könnte ich dich an den Reflektorstreifen erkennen, noch in der dunkelsten Baracke.
    Der Schriftsteller machte Notizen, auf einem kleinen Block, in winziger Schrift, und blieb öfter stehen. Den Abstand, der dadurch entstand, überbrückte er anschließend mit hektischen Bocksprüngen, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen. Nur schnell wieder zurück zum Professor, ins Zentrum von Historiografie und Ratio.
    Die Studenten dagegen, auch Xane und Mario, ließen sich immer weiter an den Rand fallen, blieben nur noch in loser Verbindung. Sie schlenderten umher und schauten, sie ließen es wirken, diese jungen Menschen, sie schafften es besser, sich auszusetzen. Sie brauchten weniger Worte, sie gebrauchten ihre Instinkte. Sie hatten noch welche, waren nicht, wie die Älteren, in die wechselnden Moden der Gedenkpropaganda verheddert. Bernays war beleibe nicht der Meinung, dass das oberflächlich war, es war nur anders. Er wusste selbst genau, wie man sich mit Fakten, Zahlen, Kausalketten und Fußnotengeschwadern polstern konnte gegen das Grauen.
    Inzwischen war es spät geworden, eine gnädige Abendsonne blinzelte hervor. Höflichkeitshalber hatte er kurz im Archiv vorbeigeschaut, während er der Gruppe freie Zeit gab.
    Die Kollegen im Archiv sagten voraus, dass es regnen werde. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er immer nur bei Regen in Birkenau gewesen, dabei wusste er, dass er oft genug gesehen hatte, wie Besucher im Gras in der Sonne saßen. Regen also für den nächsten Tag, man konnte es nicht ändern. Irgendwann

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