Quasikristalle: Roman (German Edition)
vermutete Bernays außerdem ein weitergehendes Interesse, immerhin war er in ihrem Alter und neigte auch auf anderen Gebieten zur Selbstüberschätzung. Mario wiederum, der eventuell schwul war, war wahrscheinlich von ihrer Verbindung zu Rozmburk beeindruckt.
Xane schien sich ergeben zu haben. Sie bekämpfte Bernays’ Art, hier Pädagogik zu treiben, nicht mehr, sondern überließ sich ihm nun völlig. Das lächerliche Scharmützel, das sie erzwungen hatte, hatte seinen Zweck erfüllt. Sie hatte bekommen, was sie wollte: eine Autorität, der sie sich unterwerfen konnte. Ein Satz von Werfel fiel ihm ein: Niemand konnte so bedingungslos glauben wie diese scharfe Kritikerin.
Ich habe gar keinen Film dringehabt, sagte sie.
Er sah sie an.
Na vorhin, am Rynek, sagte sie.
Ich verstehe es noch immer nicht.
Ich wollte dich nur aufmerksam machen, jammerte sie, ich wollte dich nicht bloßstellen!
– Aber warum …
Was hätte ich denn tun sollen, rief sie ungeduldig, und die anderen, die weiter wegsaßen, horchten auf, hätte ich rufen sollen, Vorsicht, fickende Hunde?
Bernays lachte. Das hätte mir, glaube ich, besser gefallen.
Ach, schleich dich, murmelte sie und sah ihn dabei so zärtlich an, dass er schnell aufstand und sein Tablett wegbrachte.
Vorübergehend verlor er die Haltung. Er fütterte sie, ironisch grundiert, mit Herrschaftswissen, das er den anderen vorenthielt. Von der Kantine gingen sie direkt zur Filmvorführung, und auf dem Weg dahin flüsterte er: Ich wollte dir das Essen nicht verderben, aber diese Kantine war früher ein Duschraum. Ein richtiger Duschraum für die Häftlinge … Wie in ›Schindlers Liste‹!
Sie bemühte sich, zu grinsen. Übles Machwerk, sagte sie, Rozmburk allerdings war begeistert.
Weil er selbst überlebt hat, vermutete Bernays, aber da nahm Xane ihn in Schutz: Du weißt ja, am wichtigsten ist ihm die Aufklärung der Massen. Strenggenommen ist er kein Intellektueller.
Noch nie hat ein Intellektueller eine Kathedrale erbaut, zitierte Bernays, und sie fragte: Von wem ist das?
Von Kissinger.
Und glaubst du das?
Mit Kathedralen kenn ich mich nicht aus.
Dafür mit Gaskammern.
Ja, kokettierte er, ich muss ein schöner Idiot sein.
Irgendjemand muss sich darum kümmern, widersprach sie, und die Bewunderung in ihrem Blick war tatsächlich nackt, etwas, das er nicht sehen durfte, weil es falsch und zu viel und kompromittierend war. Die Holocaust-Leugner …
So etwas macht man nur für sich selbst, unterbrach er sie, wobei er sich fragte, ob das stimmte und nicht nur gut klang.
Er wartete, bis alle Platz genommen hatten, und führte Xane zu einer leeren Reihe weiter hinten. Er ging voran, in die Mitte. Unser erster gemeinsamer Kinobesuch, scherzte er, und sie schüttelte missbilligend den Kopf, obwohl er ihr so doch am besten gefiel.
Was kommt jetzt, fragte sie, und er sagte: Nichts, was du nicht schon gesehen hast.
Aber will ich es noch einmal sehen?
Wahrscheinlich nicht. Ich schau es mir nicht mehr an. Ich mach die Augen zu und konzentriere mich auf die Tonspur.
Warum zeigen sie das überhaupt, flüsterte sie später, als die Leichen mit dem Bagger zusammengeschoben wurden.
Weil sie glauben, dass es dazugehört.
Man kann nicht mehr glauben, dass es Menschen sind, wimmerte sie, es sieht aus wie menschenähnlicher Müll. Eigentlich ist das Nazipropaganda.
Mach die Augen zu, befahl er, und sie bockte: Das ist keine Lösung!
Dann gehst du am besten hinaus! Darauf schwieg sie, blieb aber sitzen, mit einem Ausdruck, als betrachtete sie ein misslungenes Musikvideo. Ihre Hand zu nehmen, kam nicht mehr in Frage.
Den Rest des Nachmittags hielt sie sich im Hintergrund. Einmal hörte er, wie sie einen Studenten zurechtwies. Das war einer, der wenig sagte, aber dauernd fotografierte, in Schwarz-Weiß, Selbstentwickler, wie er im Zug stolz erzählt hatte. Der junge Mann, im Grunde ein halbes Kind, hatte seine Kamera auf die nach innen gekrümmten Zaunpfähle aus Beton gerichtet, zwischen denen sich der Stacheldraht bauschte, und dabei gemurmelt: Das schaut gut aus, wie die Pfosten die Köpfe hängen lassen. Und Xane konnte nicht anders, als ihm sarkastisch zuzustimmen: Ja, und ich finde, das ›Arbeit macht frei‹ ist hier auch besonders schön geschmiedet. Bernays zog scharf Luft durch die Nase, sie hörte es und zuckte die Schultern, während der Junge zu stammeln begann, so habe er es gar nicht gemeint.
Sie wurden wieder auseinandergetrieben. Denn inzwischen hatten sich
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