Quasikristalle: Roman (German Edition)
Klage sofort fallen, flüsterte er in ihr Ohr, ein Zitat aus dem Irving-Prozess. Es ging um die Einwurflöcher für die Zyklon-B-Dosen, eine widerliche Geschichte. Daher hatte sie auch das andere, das Gerede von den gutgenährten Juden, die bloß als Arbeitskräfte in den Osten geschickt worden waren, wo sie manchmal leider an Typhus verstarben. Rozmburk war furchtbar aufgeregt gewesen, als die Klage in London zugelassen wurde. Bernays hörte ein Geräusch aus Xanes Kehle oder tiefer, wollte es für Glucksen halten, lieber als für Schluchzen, er hielt sie locker im Arm, und plötzlich schob sie ihre Hände unter seiner offenen Überlebensjacke um ihn herum bis zu seinem Rückgrat und umarmte ihn. Die beiden anderen wendeten sich wohlerzogen ab. Und wenn er nicht gerade so falsch und raubtierhaft gelacht hätte, wäre es jetzt richtig gewesen. Denn da standen sie, aneinandergeklammert, so hilflos und idiotisch wie alle Besucher, mit der Einschränkung, dass gar nicht alle bemerkten, wie hilflos und idiotisch sie waren. Wäre es Sommer gewesen, hätten sie sich hineinfallen lassen sollen, in den moosigen Pool direkt am Stacheldraht. So verkniff er sich bloß das Lachen über sie beide, das befreiend gewesen wäre. Er war also schon wieder nicht ehrlich. Er ließ sie los, trat einen Schritt zurück, steckte eine Hand in die Tasche und bot ihr den Arm.
Warum, fragte sie, weil man in ihrem Alter wahrscheinlich das Einhängen bei Männern als grotesk empfand, und er fragte zurück: Warum nicht? Manchmal war es recht mühsam, dass sie auf jedem Zentimeter schwierig sein wollte. Aber da legte sie ihre Finger brav in seine Ellenbogenbeuge, und sie traten den Heimweg an, ins Jugendheim.
Pauline hatte zweimal angerufen, beim ersten Mal hatte er sie weggedrückt, inzwischen war sein Telefon rund um die Uhr lautlos gestellt. Er fühlte sich ein bisschen schuldig. Und wenn etwas mit einem der Kinder wäre? Er hatte keinen Geburtstag vergessen! Ophélies Bat Mitzwa war erst in vier Wochen. Er hasste sich dafür, dass er sich Gedanken machte. Pauline an seiner Stelle hätte sich bestimmt keine gemacht. Er war auf einer Exkursion, er war nicht rund um die Uhr erreichbar, und wenn bei ihrem Fundraising wieder etwas schiefgegangen sein sollte, würde sie sich gedulden müssen.
Er war der Erste beim Frühstück; als Xane kam, waren die Plätze um ihn herum besetzt. Sie lächelte ihm zu, ein bisschen verwaschen, wie ihm schien, und setzte sich zu den Studentinnen.
Danach standen alle vor der Tür und warteten auf den Herrn Architekten. Man hatte ihm, wahrscheinlich am Vorabend, sein Portemonnaie gestohlen, und nun telefonierte er hektisch mit seiner Bank und ließ die Karten sperren. Xane hatte ihm Bargeld geborgt, jetzt stand sie am Rand und spielte mit ihrer Kamera. Bernays erzählte dem Schriftsteller alles, was er über die Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik wusste, aus Höflichkeit und schlechtem Gewissen. Frauke gab sich tapfer-patent. Xane stellte sich zu ihnen. Gerade, als er sich ihr zuwenden wollte, fiel ihr etwas ein. Sie murmelte eine Entschuldigung, ging ein paar Schritte weg und angelte in ihrer Tasche nach dem Telefon. Er hörte sie sprechen, lebhaft, mit einer hohen, fröhlichen Stimme und so entspannt, wie sie mindestens seit dem Frühstück in Wien nicht mehr gewesen war. Wenn überhaupt. Und obwohl er keine Worte unterscheiden konnte, fühlte er sich verraten.
Es war wie ein Zwang, der ihn seinerseits zum Telefon greifen und Pauline anrufen ließ, was er in dem Moment bereute, als er ihrem ironischen Redeschwall ausgesetzt war. Er wusste nicht, wie viele aus der Gruppe Französisch verstanden, aber er fing einen amüsierten Blick Xanes auf, die selbst längst fertig war und ihn bis auf die Knochen zu durchschauen schien. Als er auflegte, sagte er unbestimmt in die Runde: Schöne Grüße von Pauline Sussman, falls jemand sie kennt. Kampflesbe Moni stieß eine Art Entzückensschrei aus: Pauline Sussman? Die kennen Sie? Und Bernays dachte, unfassbar, jetzt habe ich ausgerechnet bei der einen Punkt gemacht.
Er ahnte, was kam, er hatte es schon früher gelegentlich erlebt. Den ganzen Weg nach Birkenau brandeten Enthusiasmus-Wellen an ihn heran, denn diese Moni, die er, unbelehrbar, wie er war, aufgrund der Äußerlichkeiten für jemanden gehalten hatte, der sich am Wochenende den juvenilen Überdruck der Drüsen in Punkrock-Kellern wegstampfte, interessierte sich im Gegenteil für klassische Musik. Klarinette,
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