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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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erfuhr er zwanzig Sekunden später, seit ihrem sechsten Lebensjahr. Eine Musikerin. So fand ein jeder seine persönliche Holocaust-Teilmenge. Beeindruckend, sagte er und lächelte gequält, und Sie haben eines von Paulines Büchern gelesen?
    Alle, rief Moni und begann detailreich zu sprudeln, wobei sie sich von Bernays ab-und ihren Kollegen zuwandte, denn da gab es Unwissende zu missionieren. Sie sprach mit dem überbordenden, selbstvergessenen Eifer der Schüchternen, der oft in Bestürzung endet, wenn er zum Ende gekommen ist und dem eigenen Nachhall lauscht.
    Was Bernays von Paulines Arbeiten hielt, hatte er sich niemals eingestanden. Sein Über-Ich brachte ihn sofort zur Räson. Hier, weit weg von zu Hause und mit Xanes hübscher Figur vor Augen, wagte sich jedoch ein böses Stimmchen hervor. Wie auf jedem wissenschaftlichen Gebiet gab es auch in der Shoah-Forschung die harten und die weichen Themen. Und wie überall gab es Forscher, die die wenig belohnte Grundlagenarbeit machten, zum Beispiel jene, die seit Jahren die Deportationswege mit den Truppenbewegungen abglichen, um die vertrackte Frage zu klären, wie sehr die Nazis durch den logistischen Aufwand, den sie für die Judenvernichtung betrieben, ihre eigene Kampfkraft geschwächt hatten. Ob sie das wussten. Oder ob es dem hierarchischen Chaos geschuldet war.
    Und es gab die anderen, die auf das leicht Vermarktbare setzten, Bernays nannte das ›Menscheln nach dem Spielberg-Prinzip‹. Der einzige Unterschied zu anderen Forschungszweigen war, dass hier selbst diese Themen moralisch vergiftet waren. Shoah-Business, kreischten die einen, doch die anderen, wie Pauline, lächelten selbstgefällig und fühlten sich nie gemeint. Sie ordneten der sogenannten Breitenwirkung vieles, manchmal alles unter. Pauline war ihr Thema quasi vor die Füße gefallen. Als junges Mädchen interviewte sie ihres Vaters Freunde und Kollegen, auf deren Knien sie als Kind gesessen war. Und so wurde sie, weil sie warm und herzergreifend schreiben konnte, zur ersten Expertin für die Häftlingsorchester. Sie arbeitete biografisch, beschrieb die Vorkriegskarrieren und die Nachkriegstragödien der jüdischen Musiker, die selten darüber hinwegkamen, dass etwas so Zufälliges wie ihr Talent ihnen das Leben gerettet hatte. Dank ihrer Beschreibung der bevorzugten Musikstücke erfuhr man auch etwas über den recht konventionellen Musikgeschmack der Nazi-Bonzen, die diese Orchester zum fröhlichen Spiel gezwungen hatten, während sie alle anderen in den Tod schickten. In ihren Vorträgen streifte Pauline dieses Thema mit kleidsamem Ekel. Als ihr nach mehreren Büchern die Neuigkeiten und die Überlebenden ausgingen, wurde sie Lobbyistin. An die Ambivalenzen zwischen zynischem Zwang und dem Glück, das die Musik den Menschen überall vorzugaukeln imstande ist, traute sie sich nie recht heran. Sie schien zu wissen, dass sie für eine tiefergehende wissenschaftliche Karriere weder genug Ausdauer noch Talent hatte. Und das bewunderte Bernays dann wieder sehr an ihr, denn eine solch knallharte Selbsteinschätzung ging ihm, das ahnte er, ab.
    Es begann zu regnen, Bernays hatte sich von dem trockenen Himmelsgrau schon verhöhnt gefühlt. Er rollte seine Kapuze aus dem Kragen und schritt schneller aus. Er begann in den Latrinen, da hatten sie es vorübergehend wenigstens trocken, was historisch gesehen wieder ein großer Witz war. Er hielt seine Stimme so tonlos und technisch wie möglich; er spulte die Fakten ab, für die es keine adäquate Darbietungsform gab. Es war das immergleiche Problem, jenes, das Xane bei der Filmvorführung benannt hatte: Die Taten waren so obszön, dass es bereits obszön war, sie zu schildern, all die mörderischen, absichtlichen Schlampereien, dass die grandiosen Erbauer dieser Stätte auf ein paar richtige Rohrdurchmesser und Neigungswinkel gern verzichtet hatten, um den Menschen, die sie nicht gleich, sondern erst später umbrachten, schon mal zu zeigen, wofür sie sie hielten. Es war obszön, Bilder der shit -Kommandos heraufzubeschwören, die täglich Tonnen von Exkrementen weggeschaufelt hatten, oder von den wenigen Sekunden zu sprechen, die man den Häftlingen, nebeneinander auf den Löchern hockend, gewährte, bevor sie wieder hinausgehetzt wurden.
    Bernays war trotzdem der entschiedenen Meinung: entweder ganz oder gar nicht. Für die, die ohne Führung, manchmal mit Musik auf den Ohren, hier bloß durchwanderten, um den schwarzen Geist des Ortes durch sich

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