Quasikristalle: Roman (German Edition)
Monaten ein Drittel aller Opfer ermordet und verbrannt wurde. Dass die neu eingetroffenen Familien hier im Wald, der die Krematorien verbarg, warten mussten, bis sie dran waren, sie dachten ja, zum Duschen. Manche Kinder hatten noch Blumen gepflückt. Dass die Krematorien nicht gereicht hatten und zusätzlich Verbrennungsgruben ausgehoben werden mussten. Aus Nazisicht ein bedauerlicher technologischer Rückschritt.
Vor allem aber bat Bernays, nichts aufzuheben, egal, was sich ihnen in den Weg legte. Es gab immer wieder Verrückte, die Zähne als Souvenir mitnahmen, oder Fingerknöchelchen. Andere versuchten, so etwas schnell zu vergraben, wie bestürzte Eichhörnchen. Wieder andere brachten die kleinen Teile ins Museum und weinten dabei.
Als sie bei den Überresten der gesprengten Krematorien ankamen, hörte es auf, zu nieseln. Bernays holte einen Bauplan aus dem Rucksack und erklärte ihnen die Anlage. Wie wenig es für die Sache an sich gebraucht hatte, nur den unterirdischen Raum und die vier winzigen Löcher im Dach, vom Durchmesser einer Schuhcremedose. Dort hatte die SS die geöffneten Zyklon-B-Dosen eingeworfen, an einer Schnur, sie fielen in einer Säule aus Maschendraht zu Boden und wurden anschließend wieder herausgezogen. Logistik brauchte man nur vorher und nachher, Treppen hinunter, da konnten sie noch selbst gehen, Eingangsbereich, Auskleiden, Schuhe schön zusammenbinden, damit man daheim in Deutschland etwas davon hatte, und nachher den Aufzug hinauf, der die Leichen zu den Öfen transportierte, zwanzig bis fünfundzwanzig pro Fahrt, und sie brannten und brannten, Tag und Nacht.
Richtig wütend wurde Bernays nur noch selten, und nur, wenn er darüber nachdachte, wie gut sich die Dinge manchmal fügen, wenn man sie nur weit genug treibt. Als gäbe es innerhalb des absolut Bösen immer noch Grenzen oder Steigerungsstufen, und wer sie ungerührt überschreitet, wird am Ende sogar belohnt. Denn die Gaskammern waren nicht nur schnell und effizient, sondern führten außerdem dazu, dass die Verantwortlichen selbst so gut wie raus waren. Sie mussten sich die Hände nicht mehr schmutzig machen. Man schläft dann einfach besser. Die Opfer machten alles selbst, das ist wahrlich ein immenser Vorteil von Gewaltregimes. Der in der Gaskammer seine Vollendung fand. Die aus Häftlingen bestehenden Sonderkommandos zogen die ineinander verkeilten Leichen Stück für Stück heraus, schleppten sie zum Lift und stopften sie oben in den Ofen, so lange, bis sie selbst ins Gas mussten, von frischeren Sonderkommandos abgewickelt. Die einfallsreichen Deutschen dagegen schonten ihre zarten Nerven, denn dass einige zarte Nerven hatten, war weiter im Osten ruchbar geworden, bei den Massenerschießungen. Da schaute einen so ein Opfer glatt noch an, bevor es, sein Kind auf dem Arm, hintenüber in die Grube sank. Kein unpersönliches Angelspiel mit Dosen voller Giftkristalle und einer lustigen gasdichten Maske über dem Gesicht.
Er faltete den Plan zusammen und verstaute ihn. Von all dem hatte er nichts gesagt, nur die Abläufe geschildert. Das war für Neulinge ohnehin schlimmer. Gegen die Täter zu wüten, lenkt ab, aber sich, Fuß auf demselben Boden, zu vergegenwärtigen, was mit den Menschen, die auf den Fototafeln so ängstlich dreinblicken, im Detail geschehen ist… Das will ja keiner.
Er lächelte aufmunternd, ohne jemand Bestimmtes anzuschauen. Am besten richtet man den Blick auf Brustbeinhöhe, schweift verschwommen von einem Kragen zur nächsten Halskette. Ergebnis seiner Bildrandbeobachtung: Aus manchen Fäusten, und nicht nur weiblichen, lugten weiße Zipfel. Taschentuchhinweise. Allerdings war es ingesamt etwas feucht. Er trieb sie weiter, zu dem Bunker, in dem Edith Stein gestorben war. Dort fiel ihm auf, dass der junge Student wieder zu fotografieren begann. Der Schriftsteller zu kritzeln. Dass ein paar andere wieder flüsterten. Xane stand am Rand und sprach leise auf Mario ein. Der nickte, nickte immer wieder, und war blass.
Das Schlimmste haben wir geschafft, sagte Bernays zu Schurl Slezak, der wieder in sein Kopfschütteln verfallen war. Schurl hielt kurz inne und nickte. Dann schüttelte er weiter, beinahe hätte Bernays gelacht. Xane weiß so viel über Erschießungen, murmelte Schurl, sie erzählt es gerade Mario.
Wahrscheinlich Browning gelesen, erwiderte Bernays.
Wie bitte, fragte Slezak, hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. Er sah aus wie ein ratloses Kind.
Nicht so wichtig, winkte Bernays
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