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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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hindurchwehen zu lassen, hatte er nichts übrig. Wer hierherkam, musste alles erfahren, da gab es keine Schonung, das war die Pflicht. Die meisten hatten anschließend Jahre Zeit, ihr neues Wissen zu verarbeiten, und die alten Leute, meistens: die alten Deutschen, die sich erst bei letzter Gelegenheit hertrauten, hatten es eben nicht anders verdient, wenn sie es bis zu ihrem eigenen Tod nicht mehr aus dem Kopf kriegten.
    Heute würde der schwierigste Tag werden. Auch das war immer das Gleiche. Er musste sich um den Sportreporter kümmern. Der würde ihm sonst bestimmt als Erster durchgehen. Er holte ihn an seine Seite und begann, ihn auszufragen. Die Dankbarkeit auf seinem Gesicht erfüllte Bernays mit Zufriedenheit. Ja, die Schwankenden stützen, auch das war eine Qualität des guten Führers. Oder Hirten. Die anderen, die Jüngeren, kamen schon irgendwie durch, er selbst hatte es ja auch immer geschafft.
    Schurl Slezak sprach langsam, er bemühte sich um eine gepflegte Ausdrucksweise, um vollständige Sätze und um möglichst wenig Wiener Akzent. Das war zwar alles nicht nötig, aber vermutlich half es ihm, die Umgebung auszublenden. Wie gesagt, seine Mutter. Die anscheinend hier gewesen war, doch erzählt hatte sie nichts. Ihre Schreie in der Nacht, als Slezak ein Kind gewesen war. Dass er sie habe wecken müssen. Ihre wirren Haare und Augen, der Nachtanblick. Dass Slezak später eine Zeitlang nicht sicher gewesen sei, in welcher Rolle sie hiergewesen war. Dass er es eine Zeit lang für möglich gehalten habe, dass sie mitgemacht hatte, als Aufseherin oder so. Weil sie rein gar nichts über politische Vorlieben habe erkennen lassen, nach dem Krieg! Wie sehr er sich inzwischen dafür schäme. Denn er sei schon sehr früh zu den Roten gestoßen, das könne kein Zufall sein. Dass er aber einfach nicht aufhören könne, ihr Vorwürfe zu machen, dafür, dass sie ihm alles verschwiegen habe. Jetzt sei sie täglich länger tot, aber seine Vorwürfe würden eigentlich mehr. Sie habe ihre Ruhe, aber seine eigene sei dahin. Ob Bernays glaube, dass das eine Altersfrage sei. Da tauchte hinter zartgrauen Regenschleiern der Wald aus Schornsteinen auf.
    Bernays stellte sich vor, dass dies seine letzte Exkursion wäre. Der Gedanke erstaunte ihn, so fremd und neu war er. Bisher hatte er es immer wieder gemacht, weil er wusste, dass er gut war. Auschwitz mit ihm, das war ein besonderes Erlebnis, das hatten ihm alle über die Jahre versichert, die Studenten, Kollegen, Rentner, deutsche, französische, jüdische Gruppen, welche Fahne auch immer er hier vorangetragen hatte. Wenn er es nicht machte, würde es ein anderer machen. Ein Schlechterer. Sicher, es machten ohnehin so viele andere, Gute, Schlechte, aber das war kein Argument. So argumentierten Nichtwähler. Aber vielleicht hatte er sein Soll allmählich erfüllt, obwohl ja dieser Ort jede Sollerfüllung ausschloss, zumindest eine, nach der man weiterlebte. Trotzdem: Vielleicht war es einfach genug. Sich auflehnen, desertieren. Sich losreißen, hiervon und von Pauline. Die Outdoorjacke verschenken, am besten gleich dem Herrn Architekten, der würde in Zukunft auch viel draußen sein.
    Er gab Mario ein Zeichen. Der Mann war eigentlich gut, seriös und verlässlich, viel weniger gelackt, als Bernays gedacht hatte, noch vor einer Woche, am Flughafen. Das, was er für affig gehalten hatte, war lokaltypisch, der Wiener Zuschlag. Wir müssen ein bisschen aufpassen, raunte er ihm zu, auf den alten Slezak, wahrscheinlich auch auf Xane, unsere falsche Nichte. Die anderen kann ich schlecht einschätzen. Was meinst du?
    Mario nickte. Wenn sich Frauke und Jürgen um ein paar Studenten kümmern, haben sie selbst etwas zu tun, schlug er vor, und Bernays war verblüfft, wie schnell er begriff und die Sache weiterspann.
    Okay, sagte er und grinste, du Xane, ich den Sportreporter, ich gebe Frauke einen Tipp, und du sagst dem Herrn Architekten, er soll sich von Moni noch genauer über die Häftlingsorchester informieren lassen? Jungenhaft hob Mario die Hand, und Bernays klatschte ihn ab. Wieder jemanden glücklich gemacht. Das war das erste Mal, dass er Mario seinem plappernden Konkurrenten vorzog. Und außerdem überließ er ihm Xane.
    Sie waren auf dem Weg zu den Ruinen der unterirdischen Gaskammern inzwischen beim Wäldchen angekommen. Bernays gab die notwendigen Informationen, über die Grenzen der Kapazitäten, die mit der ungarischen Aktion erreicht worden waren, als innerhalb von nur zwei

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