Quasikristalle: Roman (German Edition)
weismachte, sie habe die Prinzessinnenschuhe beim Rauchen in den Hof gestellt, damit ein Prinz sie finde – das überstieg gewiss Xanes Vorstellungsvermögen. Sie wollte die Schuhe nicht annehmen, sie wollte sie Sally zurückgeben, unbedingt. Sie fürchte sich vor Spontangeschenken, sagte sie, sie fände sie unheimlich.
Das war kein Spontangeschenk, sondern eine Eingebung. Und ich hab kein Einwickelpapier gehabt, außerdem wollte ich wissen, ob sie dir überhaupt gefallen. Ich hab die Schuhe, sozusagen, an mir selbst in die Auslage gelegt.
Sie lagen am Landwehrkanal in der Sonne und redeten in alle Richtungen, über Männer, Bücher, Träume. Zum ersten Mal gestand Sally jemandem die Affäre mit ihrem Pariser Gesangslehrer, den sie wie wahnsinnig geliebt hatte, so lange, bis dessen Frau dahinterkam. Was es ausmachen konnte, eine Geschichte zu erzählen, anstatt sie ohnmächtig in sich selbst kreisen zu lassen! Und mit welchem Nachdruck Xane Partei ergriff, für sie, die ein blutjunges, naives Mädchen gewesen sei, während der tragisch-schöne Guillaume sie in den Mist erst hineingezogen und dann fallengelassen habe.
Über Judith sprachen sie kaum, hier schien Xane Abstand zu wahren. Das war Sally durchaus recht. Vorläufig log sie nur, wenn die Rede auf ihre Mutter kam, sie hätte gar nicht sagen können, warum. Weil sie Xane nicht enttäuschen wollte, die Eindrücke und Szenen hervorzog wie ein fliegender Händler, der Postkarten mit Kindheitsidyllen im Angebot hat? Weil sie voller Zuneigung, aber auch schlecht verhohlener Neugier von der skandalumwitterten Zsuzsa sprach? Über Xanes Formulierung vom ›bohemehaften Leben da draußen in eurer Pippi-Langstrumpf-Villa‹ musste Sally lachen. Wo hat man je Bohemiens gesehen, die um vier Uhr früh aufstehen, um die Backstube zu heizen? Aber sie ließ Xane ihre Version. Es hatte seinen Reiz, die eigene Kindheit in rosafarbenem Tüll vorgesetzt zu bekommen.
Vielleicht schwindelte sie deshalb, wenn es um ihre Mutter ging. Vielleicht war das, was sie sagte, bei wohlwollender Betrachtung ja nicht vollkommen falsch. Auf eine Weise, die weitere Nachfragen vorläufig verbot, murmelte sie nur: Nein, es geht ihr nicht gut, leider überhaupt nicht gut. Denn es konnte ja niemand wissen, ob es nicht doch ein Jenseits gab, in dem sich die Toten grämten.
Xane hingegen erzählte, selbstironisch und begeistert, von Mor und ihrer großen Liebe, eine romantische Geschichte ohne jeden Makel, die nur dunkel abgetönt wurde von Andeutungen über das Drama mit Mors erster Frau, der Mutter seiner beiden Kinder. Sally hätte darüber gern mehr erfahren. Wenn sie in Fahrt war, sprach Xane schnell, viel und originell; unter ihren Wortkaskaden konnte man sich beruhigt zusammenrollen wie ein Kätzchen im Korb. Vor allem stellte Xane niemals, anders als Judith, inquisitorische Fragen, die möglichst von ihr selbst ablenken sollten. Ihre rituellen Entschuldigungen, ach, es tut mir so leid, ich kübel dich ja total zu, ließen sich mit den Händen wegwedeln.
So trieben sie, sich ihren Launen überlassend, durch die sommerliche Stadt. Xane nannte es hingerissen Urlaub vom echten Leben, Sally stichelte, ich glaube, du musst öfter raus. Sie gingen Cocktails trinken, Sally kannte alle Happy Hours in der Umgebung, und die Kneipen, die sich als Mexikaner ausgaben, waren besonders billig. Xane wiederum hatte die Handtasche voller Einladungen; zweimal zog sie, wie zufällig, eine heraus, die sie für interessant befand, und also wohnten sie einer Filmpremiere und einem Galerie-Rundgang bei. Beide Male distanzierten sie sich boshaft flüsternd vom Gebotenen, und von den Gästen in ihrer prallen Hauptstadtwichtigkeit sowieso, sie kreischten auf, wenn man sie für Münchnerinnen hielt und wilderten anschließend am Buffet. Sally ließ Kuchen und Obst für Baby in die Tasche gleiten.
Bei der gutmütigen Frau Hilpert bekam sie inzwischen Mengenrabatt für Babys Betreuung. Xane wusste noch gar nichts von dem Kind, irgendwie war der passende Zeitpunkt bisher nicht gekommen. Im schlimmsten Fall war er auch schon vorbei; so etwas war zwar paradox, aber möglich. Sally amüsierte sich insgeheim darüber, dass sie bald putzen gehen müsste, um diesen alle Sinne belebenden Schlendrian mit Xane finanzieren zu können; putzen gehen oder etwas Schlimmeres. Erst vor Kurzem hatte der Barpianist Bernd eine klamme Hand auf ihren Schenkel gelegt; in dem winzigen Raum voller Bierfässer, wo sie sich schminkte, bevor
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