Quasikristalle: Roman (German Edition)
Minuten später hob sie sich ein heißes Ärmchen vom Gesicht, spürte ihr Herz wieder knistern, als ob es brechen wollte, nahm die Schuhe und schlich hinaus.
Xanes Wohnung war untadelig, sosehr sich Sally nach Spießerbeweisen umsah. Unrenovierter Parkettboden, viele Bücher, kaum Bilder, die Leute standen überall, teils mit Gläsern, teils mit Bierflaschen. Von irgendwoher dröhnte Edith Piaf, das hätte als Überführung dienen können, wenn Sally nicht ausgerechnet damit gerade ein paar zusätzliche Hunderter verdient hätte, in einer schmierigen Bar in Kreuzberg. Danke, Edith, danke Jacques, dass sie Baby und sie wieder ein paar Wochen durchbrachten. Zu einer Band, wie Juliette Lewis sie hatte, würde sie es wohl nicht mehr bringen.
Xane schien sich zu freuen, sie zu sehen. Nach der Begrüßung rieb sie mit den Fingerknöcheln noch eine Weile an Sallys Oberarm, das machten sie hier so. Dann schleppte sie sie herum und stellte sie allen möglichen Leuten vor: Sally aus Wien, eine Kindheitsfreundin, Schauspielerin, Sängerin, und Sally übernahm die Rolle wie jede andere, sie lächelte eingeweiht, geheimnisvoll und schüttelte gelegentlich ihre Haare. Der Einzige, der nachfragte, war Mor Braun, Xanes Mann. Rollen, Stücke, Bühnen, Regisseure?
Sie übertreibt maßlos, das müsstest du wissen, sagte Sally brüsk und nahm den Mut dazu nur aus Mors amüsiertem Blick, ich jobbe und will an die Volksbühne.
Er war nicht böse, er grinste, als ob seine Frau ständig im Namen anderer Menschen hochstapelte. Statt einer Antwort öffnete er eine Flasche Rotwein. Sally verspürte anfallartig Verständnis dafür, dass man einen solchen Mann heiratete. Er war wie ein sonnenwarmer Fels, auch wenn er neben der überbordenden Xane wahrscheinlich älter und väterlicher wirkte, als er war. Sally selbst neigte dazu, sich mit neurotischen Jungspunden zu verzetteln, die sich für Künstler hielten. Wenn man bei ihren Liebschaften überhaupt von einem Muster sprechen konnte.
Xane kam und hängte sich an Sallys Arm: Was sagst du jetzt, Mor, fragte sie, ein bisschen zu laut, meine Wiener Kindheit, wiedergefunden am Klo beim faden Ragow.
Du warst bei Ragow, staunte eine Frau, die Handschuhe bis zum Ellenbogen trug, dafür aber nichts an den Füßen, am Donnerstag, bei der Vernissage?
Nichts versäumt, Schätzchen, spottete Xane, immer der gleiche politisch korrekte Retromix! Die Barfüßige protestierte. Xane, die weitergehen wollte, blieb abrupt stehen und füllte sich mit einer federnden Energie, die Sally vollkommen neu war.
Hör mal, Ulla, ich weiß, dass dir Ragows winzige blaue Augen gefallen, aber geh ihm bitte nicht so auf den Leim: Wenn wir beide uns morgen Perücken und Hütchen aufsetzen und singen wie die Andrew-Sisters, ist das mehr Verfremdung und kritisch-politisches Zitat als dem seine gehypten Collagen! Sie ließ ihre Hände, die Finger gespreizt, in Schulterhöhe affektiert flattern. Ein paar Umstehende lachten, Ulla äffte, derart sozial übertölpelt, zumindest Xanes ›dem seine‹ nach, und Sally intonierte zur Ablenkung: Bei mir bist du scheen, please let me explain, wofür sie einen überraschten Blick von Mor erntete.
Sally nahm einen Mundvoll Rotwein und ließ ihn von einer aufgeblähten Backe in die andere schwappen. Judith hatte das einmal gemacht, zu Hause am Tisch, die Augen flatternd geschlossen, sich zurücksinken und den Wein langsam aus einem Mundwinkel rinnen lassen, wie Blut. Mama hatte aufgeschrien, und Papa hatte ihr nach minimalem Zögern eine umso Festere gewischt, dass sie vom Sessel geflogen war. Aber Sally hatte es nachher geübt, heimlich. Das mit dem einen Mundwinkel war nämlich gar nicht so leicht.
Die Party war weit angenehmer als erwartet. Xane war stark und selbstsicher, sie hatte sich hier und im Leben vorangekämpft, und nun packte sie, wahrscheinlich aus reiner Sentimentalität, Sally am Genick und riss sie mit. Zumindest heute Abend konnte nicht mehr viel schiefgehen. Sally streckte Mor ihr Glas entgegen und neigte bittend den Kopf, und sie stießen an, als würden sie sich lange kennen. Was sie wohl über ihn gedacht hätte, wenn sie ihn allein kennengelernt hätte, ohne zu ahnen, dass er mit Xane Molin verheiratet war?
Plötzlich flossen die Menschen aus Küche und Flur ab, in Richtung Wohnzimmer. Mor bedeutete ihr, mitzugehen. Dort drängten sich alle an der Tür, Sally nahm mit ein paar anderen den zweiten Eingang und kam neben dem Klavier zu stehen. Die Lichter gingen
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