Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
Vom Netzwerk:
ihr Auftritt begann. Mitten hinein in seinen erbärmlich flehenden Blick hatte Sally das kostet aber gegurrt, als Witz, um ihn zu vertreiben, was sofort gelungen war. Doch seither drehte und wendete sie diesen Satz probeweise in Kopf und Bauch und überlegte, mit wem und für wieviel sie das wirklich tun würde.
    Vorerst verschob sie alles Rechnen und Nachdenken auf später. Darin war sie gut. Viele Dinge lösten sich von selbst, ohne dass man sich mit einer Entscheidung quälen musste. Solange sich in der Blechdose noch der eine oder andere Schein fand, solange Frau Hilpert guter Dinge war und Baby, den armen kleen’ Krümel , jederzeit übernahm, genoss sie es, mit Xane um die Häuser zu ziehen.
    Sie sagte zwei Jobs beim Cateringservice ab und entschuldigte sich mit einer langwierigen Erkrankung ihrer kleinen Tochter, wofür sie von der Frau, die die Dienste einteilte, bemitleidet wurde. Zum Glück war Baby seit jeher ein robustes Kind, so konnte sie hoffen, dass nicht kurz darauf echte Krankheiten ihren Lügen aufgedoppelt wurden. Vor sich selbst verteidigte sie die gestohlene, kostspielige Zeit als Investition, beinahe als Wette auf die Zukunft. Xane hatte Pläne mit ihr, sie kannte überall Leute. Xane malte ihr Wienerlied-Abende aus, von Bronner, Kreisler, Hirsch, in einer besseren, größeren Bar als jener Kaschemme in Kreuzberg, nicht zu groß, aber cool. Sie wollte das irgendwie organisieren, produzieren, und Sally sollte singen. Und für ihre eigenen Projekte brauchte Xane Stimmen und Sprecher, manchmal auch Schauspieler.
    Du solltest allerdings ein paar Stunden nehmen, um den Akzent wegzukriegen. Sonst wirst du nur als Österreicherin oder Bayerin besetzt, ein wahrlich überschaubares Feld.
    Jaja, dachte Sally, Weinschorrrle . Sie konnte sich keinerlei Stunden leisten, war aber zu bequem, das zuzugeben. Vielleicht war sie zu feig. Denn Xane hätte ihr wahrscheinlich Geld angeboten. Und was hätte sie dann gemacht?
    Es war faszinierend und einschüchternd zugleich. Xane war nur ein paar Jahre älter als sie und hatte schon so ein Auftreten; und eine eigene Firma. Sally hörte ihr beim Telefonieren zu, welch freundlichen, bestimmten Ton sie anschlagen konnte, einen echten Chefton. Selbst Sally hätte da nicht widersprechen mögen, obwohl Xanes Überzeugungen sie oft zum Widerspruch reizten. Beruhigend war, dass das nur eine Rolle war, dass man offenbar keinen angeborenen, faschistoiden Chefcharakter haben musste, wie Sally naiverweise angenommen hatte. Mit einem fischmaulbreiten Lächeln konnte Xane Wie auch immer, Herr Kügler-Ott, ich freue mich sehr auf unseren Termin nächste Woche, da werden wir bestimmt für alle Details eine Lösung finden säuseln, dann auflegen, sich zu ihr umdrehen, mit zwei Fingern im Mund Würgegeräusche machen und stöhnen: Ich sag’s dir, den solltest du sehen, ich wette, der geht am Abend zu einer Domina und lässt sich die Eier piercen. Es war ein Spiel, wie Xane ihre winzige Firma betrieb, es schien ein vergnügliches Spiel zu sein, das sie voller Hingabe und Konzentration spielte.
    Aber wenn sie in dem Secondhandladen im Hinterhof der Adalbertstraße standen, war sie völlig hilflos. Sally musste sie fast mit Gewalt dazu bringen, etwas anzuprobieren, das nicht so aussah wie all das Langweilig-Edle, das sie schon mehrfach besaß. Einmal zog sie ihr einen bestickten, fast bodenlangen Seidenmantel an und hängte ihr, angefeuert von der Inhaberin, noch ihre eigenen Kreolen an die Ohren.
    Das bin nicht ich, jammerte Xane, drehte sich wie eine Schülerin im ersten Ballkleid vor dem Spiegel, und Sally, die im Türrahmen lehnte und rauchte, sagte abschätzig: Sei froh, verdammt, wer will denn schon immer er selbst sein.
    In diesen ekstatischen zehn Tagen von Mors Abwesenheit sahen sie einander fast täglich. Xane zahlte oft beiläufig die Rechnung, und zum Dank verschleppte Sally sie ins Unterholz der Stadt, in seltsame Hinterhofkneipen und dunkle Läden, in die sich Xane, wie sie voller Angstlust verkündete, allein niemals getraut hätte. Sallys spontane Liebe zu Berlin bestand genau darin, dass man untertauchen, in Parallelwelten leben konnte, von deren Existenz jemand wie Xane nichts ahnte. Die Stadt kam Sally vor wie eine fernsehturmhohe Schichttorte; jeder grub sich in seiner sozialen Lage horizontal voran. Die hauchfeinen, transparenten Trennscheiben dazwischen waren schwer überwindbar. Man konnte, wie sie, zwar so tun, als ob, indem man in Drinks und Zigaretten

Weitere Kostenlose Bücher