Quasikristalle: Roman (German Edition)
sie einmal gesehen hättest, die zwei, seufzte sie und drückte sich eine Plüschgiraffe, die sie irgendwo herausgezogen hatte, gegen den Bauch. Da machte Sally, dass sie fortkam, mit dem lodernden Vorsatz, sich eine Weile zurückzuziehen, unterzutauchen, sich nicht mehr zu melden. Sollte Xane sich kopfüber in ihr Stiefmutter-Glück stürzen! Nur wer selbst keine Kinder hatte, konnte dermaßen übertreiben.
Ein paar Nachmittage zog sie mit Baby durch die Kneipen und trank Erdbeer-Mojitos, die alle nicht schmeckten. Baby war glücklich und stolz, sie saß still, wo man sie hinsetzte, sie lächelte die Kellner an und aß manierlich, ohne zu patzen. Aber wenn Sally sie abends bei Frau Hilpert abgab, brach sie in Tränen aus und klammerte sich an ihre Beine. Ich muss arbeiten, du Dummkopf, was ist denn mit dir los, schimpfte Sally und bog die kleinen Finger auf. Jedes Mal, wenn sie nach so einer Szene die Stiegen hinunter zur Arbeit floh, nahm sie sich vor, gleich am nächsten Tag ihrem Vater zu schreiben und um Geld zu betteln. Er würde es Judith nicht verraten, wenn sie ihn nur demütig genug um alles bat. Wenn sie ihm zum Beispiel schriebe, sie denke ständig an die Mama und vermisse sie so. All das wollte sie tun für eine kleine Verschnaufpause ohne Catering, damit das Kind nicht durchdrehte. Nur bis sie etwas anderes hatte. Aber wenn sie in der Früh aufwachte, mit dumpfem Kopf von den Absackern nach der Arbeit und zu vielen Zigaretten, und Baby mit einer Thermoskanne voller Kaffee zur Tür hereingeschoben wurde, und wenn sie weiterdöste, während Baby zu ihren Füßen malte und danach alle Bücher und Zeitungen durchblätterte, bis Sally sie in den Kindergarten brachte, dann dachte sie wieder, ach was, das schaffen wir schon.
Xane versuchte redlich, sie zu erreichen. Sally erkannte das an. Das Telefon läutete wieder und wieder, und da außer Frau Hilpert kaum jemand diese Nummer hatte, Frau Hilpert aber ohnehin herüberkam, wenn es etwas gab, hob sie einfach nicht ab. Einmal sah Sally, wie sich Baby dem Telefon näherte und die Hand vorsichtig nach dem Hörer ausstreckte, da sprang sie mit einem Satz dazwischen und brüllte sie, Nase an Nase, an: Nein! Baby kräuselte sofort den Mund, Sally drehte sich weg, um das Geheule nicht zu sehen. Gott, konnten sich diese Kinder leidtun! Aber wem tat eigentlich sie leid? Erst abends, beim Einschlafen, kam heraus, dass Baby dachte, es sei der Prinz, der versuche, sie zu erreichen. Aber Prinzen telefonieren nicht, beteuerte Sally, schob Baby das Nachthemd hoch, setzte die Lippen fest um ihren Nabel und blies, bis es knatterte und Baby kreischte. Als Baby schlief, die Faust an Sallys Ausschnitt gekrallt, dachte sie darüber nach, ob Baby ihr nicht den Weg zurück gewiesen hatte. Was würde Xane denken, wenn ein Kind abhob? Angriff ist die beste Verteidigung.
Einmal gedacht, konnte sie es kaum erwarten. Zwei Tage blieb das Telefon still, und Sally wurde beinahe ungeduldig. Sie konnte Baby dort nicht einfach anrufen lassen, denn dass Vierjährige noch nicht selbst wählten, wusste Xane bestimmt.
Als es das nächste Mal läutete, zu einer Zeit, die typisch war für Xane, nahm Baby ab. Sie sagte wie vereinbart Sally schläft , und Sally kniete daneben und applaudierte pantomimisch. Baby fühlte sich wichtig und strahlte sie an. Doch dann lauschte sie und fixierte einen Punkt im Raum.
Baby, sagte sie nach einer Weile leise, räusperte sich und wiederholte: Baby, nur Baby, aber Frau Hilpert sagt Krümel.
Sally riss ihr den Hörer aus der Hand.
Hallo, rief sie, hallo, wer ist da?
Dann legte sie auf und zog den Stecker aus der Dose.
Das war eine nette Frau, sagte Baby vorwurfsvoll.
Ich hab gar nichts gehört, erwiderte Sally, weißt du, manchmal geht plötzlich die Leitung kaputt, und sie griff nach der Handtasche, zog Baby die Schuhe an und teilte mit ihr beim Mexikaner einen Churrasco mit Pommes.
Sally wartete nicht auf Xane, beileibe nicht; sie bewies sich vielmehr, dass sie auch ohne sie genug zu tun hatte. Sie wusste, sie trank zu viel, aber solche Phasen gab es, man durfte nicht immer so streng mit sich sein. Zumindest liefen die Geschäfte halbwegs; Frau Hilpert bekam einen Teil ihres Geldes, und um sich selbst zu überlisten, zahlte Sally die Miete vorzeitig ein. Sie caterten bei großen Veranstaltungen und kleineren privaten Partys. In einer Villa im Grunewald schien es mehr berühmte Leute zu geben als unberühmte. Sally kannte keine Namen, aber ein Großteil
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