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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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sah aus, als würde der Talkshow-Auftritt unmittelbar bevorstehen, so unecht gepudert und gebräunt wirkten ihre Gesichter. Sie ging mit Gläschen voller Krabbensalat herum und beobachtete die Leute unter den Wimpern hervor. Sobald man oben schwarz und unten weiß war und eine Platte oder Flasche trug, war man für die aufgekratzten Genießer quasi enthauptet. Selbst wenn sie sie ansprachen, hoben sie den Blick nicht höher als bis zum Schürzenbund. Sie stellte sich vor, in die Knie zu gehen und ihnen den Daumen ins Essen zu bohren, um für einen Moment aus der Unsichtbarkeit zu treten.
    In der Bar war es umgekehrt, da fühlte sie sich von glotzenden Männern wie aufgespießt. Sie konnte schon beim Singen sagen, welcher ihr nachher ein Getränk spendieren wollte. Aber die mittlere Intensität, anschauen, wegschauen, lächeln, hinschauen, in dem uralten, verlässlichen Spiel, das schien es für sie nicht mehr zu geben.
    Vielleicht nahm sie deshalb, gegen ihre Gewohnheit, diesen jungen Mann mit, nach der Bar. Geld war von dem nicht zu erwarten, nicht einmal ein Flirtsurrogat, aber manchmal verlangte der Körper sein Recht. Er sah gut aus, zerzaust und etwas verwegen, und weil er so jung wirkte, jünger als sie, unterschätzte sie ihn. Erst später fiel ihr ein, dass sie sich im Hauseingang geküsst hatten, dass sie ihm zwischen die Beine gegriffen und einiges Erfreuliches vorgefunden hatte, bis dahin war also alles normal gewesen. Sie hatten einen Joint geraucht, auf dem Weg oder in der Wohnung, das wusste sie nicht mehr genau. Kurz danach rauschte ein pechschwarzer Vorhang herunter, so tief und undurchdringlich, wie sie es noch nie erlebt hatte.
    Sie erwachte stockend vom Licht und einem Stimmengewirr, das sie lange nicht zuordnen konnte. Es war, als müsste sie durch trübe, zähe Schichten von tief unten nach oben ins Helle schwimmen. Sätze drangen mit Verzögerung zu ihr durch, ihr Ohr nahm unverzagt alles auf, doch das Gehirn entschlüsselte es viel langsamer.
    Was zum Teufel ist Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Schlafen und Bewusstlosigkeit?
    Bevor sie verstand, was das bedeutete, erkannte sie die Stimme von Mor Braun. Und dann wunderte sie sich über den Satz zunächst mehr als über seine Anwesenheit.
    Da kommtse ja wieda, ließ sich Frau Hilpert vernehmen, ick sachs ja, nüscht Schlümmet.
    Sally holte Luft und versuchte, sich aufzusetzen. Überraschend schossen Schmerzen ein, an mehreren Stellen, außerdem bekam sie nur ein Auge auf, das zweite steckte irgendwie fest. Sie griff hin und hatte an der Stelle neues, unbekanntes Fleisch im Gesicht. Sie drehte den Kopf und sah verschwommen, dass Baby am anderen Ende des Zimmers saß, auf dem Fußboden neben der Wand, maximal weit weg von ihr. Sie legte ein Puzzle und schien in keiner Weise beunruhigt. Vielleicht genierte sie sich, weil die Mama wieder so lange schlief. Das meiste hier war also wie immer.
    Wenn nur Mor nicht so ein Theater machen würde. Wo kam er überhaupt her? Er kniete neben ihr und fragte sie tatsächlich, ob sie wisse, wer er sei!
    Herr Professor Moritz Braun, sind Sie betrunken oder ich, fragte sie zurück und versuchte zu grinsen. Er schüttelte den Kopf und sah ihr ins Gesicht, aber nicht in die Augen, sondern irgendwohin knapp daneben. Sally beobachtete ihn mit ihrem Zyklopenauge, einen besorgten Vater, dem die schiere Erleichterung jegliches Schimpfen austrieb. Solch zivilisierte Hemmungen hatte ihr eigener Vater nie gekannt. Mor war ihr bisher steinalt vorgekommen, jemand weit jenseits der Nackt-Vorstellungsgrenze: ein Mann mit Ex-Frau, Lehrstuhl und wohlerworbenem Bauchansatz. Aber von ihm so angeschaut zu werden, das konnte einen im schlimmsten Fall zum Heulen bringen. Im letzten Moment wandte er sich ab und sagte zu Frau Hilpert: Gute Frau, ob Sie mir die Herrschaften reisefertig machen könnten? Ich warte draußen und rufe ein Taxi.
    Sally und Baby wurden bei Braun/Molin einquartiert, als wären sie ausgesetzte Welpen. Baby bewohnte das Kinderzimmer, das kaum kleiner war als Sallys ganze Wohnung, und war von einem rosa Plastikpferd mit kämmbarer Lockenmähne auf der Stelle korrumpiert; Sally lag im Gästezimmer auf dem Rücken, kühlte ihr Auge mit einem blitzblauen Coolpack, rauchte und gab sich so ungenießbar, wie sie nur konnte. Abfällig tat sie alle Mutmaßungen Xanes als Fernsehkrimi-Phantasien ab; dass sie unbedingt umziehen musste, weil der Kerl wiederkommen könnte, war darunter tatsächlich die lachhafteste.

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