Quasikristalle: Roman (German Edition)
geändert. Sie ruft nicht mehr alphabetisch an, sondern nach einem von ihr entwickelten System von Labilitätspunkten. Vom Erstgespräch an markiert sie die Karteikarten, niemand weiß davon, es ist kaum zu sehen. Ein Punkt: robust und hoffnungsvoll. Zwei Punkte: Durchschnitt. Die mit drei Punkten ruft sie als Erstes an, dann hat sie es hinter sich. Als sie mit Lennart in den Wehen lag beziehungsweise kniete, sagte ihre Hebamme aufmunternd zu ihr: Denken Sie dran, jede Wehe, die Sie schön weggeatmet haben, ist insgesamt eine weniger. Ja, bei den Wehen ist es eine endliche Zahl, die man nur leider vorher nicht kennt, bei den labilen Nicht-Schwangeren ist man da im Vorteil, denn man kennt sie, die Zahl und die Frauen. Ist alles kein Problem.
Es klopft, und zum zweiten Mal erscheint die junge Baukes. Sieh da, sie hat sich von Kolleginnen Schminke ausgeborgt, das nennt man schnelle Umsetzung. Heike spitzt anerkennend die Lippen und nickt. Nonverbale Zustimmung, die einzig angemessene nach der Kritik von heute Morgen. Das Mädchen sieht viel frischer aus. Aber nicht wieder Herr Özkan, neckt Heike, und die Baukes grinst. Jetzt hat sie sie, eine neue Bewunderin, in Zukunft könnte sie ihr schadenfrei die Lippenstiftfarbe empfehlen.
Nein, der Özkan ist es nicht, sondern Frau Harnik-Schwartz, die zwar für Freitag einen Termin hat, aber unangemeldet gekommen ist, weil sie schon wieder eine leichte Blutung hat. Ob Frau Doktor noch da sei, die junge Baukes lächelt verschwörerisch, oder ob Herr Doktor Steinwendner übernehmen solle? Ich bin noch da, versichert Heike, bin ich ja wirklich, und handelt sich damit gewiss weiteren Respekt ein. Frau Harnik-Schwartz wäre für den Steinwendner eine echte Strafe. Er ist einer von denen, die sich von den Gefühlen der Patientinnen so schnell belastet fühlen, er ist noch nicht lange dabei, und Heike könnte wetten, dass er bereits den Absprung sucht. Fragt sich nur, wohin, denn es ist eine Sache, einer Frau zu sagen, dass sie leider wieder nicht schwanger geworden ist, aber eine andere, dass sie Krebs hat. Wer den Kontakt mit Patienten scheut, muss Pathologe werden. Oder Pharmavertreter.
Frau Harnik-Schwartz ist allerdings ein armes Schwein. Eine der Ungeklärten, von denen kein Mensch sagen kann, warum es auf normalem Weg nicht klappt. Eileiter durchlässig, Ovulationen so regelmäßig wie eine Sanduhr, Endometrium baut gut auf, Blutwerte unauffällig, ebenso das Spermiogramm des Partners. Zwei Fehlgeburten vor einigen Jahren, natürlich nicht genetisch untersucht, denn zwei Fehlgeburten sind das, was noch als normal gilt. Vor allem, wenn ein größerer Abstand dazwischenliegt. Danach hat sie sich Zeit gelassen, wollte die Ereignisse verarbeiten, hat den Gedanken an Kinder in den Hintergrund geschoben. Aber als sie so weit war, hat überhaupt nichts mehr geklappt. Jahrelang vögeln nach dem Eisprungkalender, und kein Ergebnis, nicht das mindeste.
Sie macht gerade ihren zweiten frischen Versuch, der erste ist fehlgeschlagen, ebenso ein Kryotransfer mit überzähligen Eizellen. Jetzt ist sie zwar schwanger, aber es ist seit etlichen Wochen eine Zitterpartie. Erst hat sie geblutet, und der Wert des Schwangerschaftshormons war auch nicht berauschend. Heike empfahl, mindestens eine Woche zu liegen, an den beiden Folgeterminen war immerhin Herzaktion sichtbar. Da Frau Harnik-Schwartz zu den verzweifelten Zweckpessimisten gehört, hat sie selbst erkannt, dass diese Herzaktion eine Spur langsam war, offenbar war sie einmal mit ihrer jüngeren Schwester bei deren Schwangerschafts-Vorsorgeuntersuchung. Und daher weiß sie leider, wie das aussehen muss. Leider oder zum Glück, das wäre hier so eine Frage. Hilft es der Frau, wenn sie sich wappnen kann, oder ist es seelenhygienischer, aus allen Wolken zu fallen? Kommt auf den Typ an, wahrscheinlich.
Klein ist er außerdem, der Harnik-Schwartz’sche Embryo, eine Woche bis zehn Tage zu klein. Aber all das hat nichts zu sagen, Heike könnte es beweisen, wenn sie sich durch die Patientenakten graben würde. Zu kleine Embryonen hat sie öfters, das ist ein Fluch der Statistik, die bis Woche zwölf millimetergenaue Durchschnittsgrößen formuliert hat. Ab wann ist klein zu klein? Manchmal gehen sie ab, dann sagt man, sie waren eben zu klein. Manchmal sind sie klein und reifen stur weiter bis zur Geburt und sind dann normalgroße oder etwas kleinere Babys, aber wen interessiert das später noch.
In der Abiturklasse, im Leistungskurs
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