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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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sagte: We’ve met once. Wie gern ich ihm um den Hals gefallen wäre. Wie gern ich ihm um den Hals gefallen bin, das eine, einzige Mal, als meine Hand schon anschwoll.
    Nein, nicht in Berlin, woanders, viel weiter weg, antworte ich unbestimmt. Ich würde es ja gern erzählen, es will heraus, will sich als Geschichte ausprobieren, aber ich weiß, dass ich es nicht in die richtigen Worte fassen kann. Das Besondere lässt sich nicht sagen. Es wäre Entweihung.
    Ja, ich war verliebt, auf eine Weise, die mir pubertär vorkam, weil ich nicht genau wusste, was ich wollte. Händchenhalten? Sex? Austausch von elegischen Briefen?
    Bei Mor damals war mir das sofort klar: Ich wollte alles von ihm wissen, alles haben und nie wieder ohne ihn sein. Das war ein existenzielles Erdbeben. Die Zeitrechnung begann neu, als man mir Herrn Professor Braun vorstellte, damals, bei dieser Filmpremiere in Duisburg. Niemals wieder werden wir einem so schlechten Film so dankbar sein, sagten wir nachher dutzende Male und grinsten uns an, bis über beide Ohren überzeugt, dass nur wir, als Einzige der gesamten Menschheit, ermessen konnten, was es bedeutet, den Richtigen gefunden zu haben. Wie es sich anfühlt, sich mit der Platon’schen Kugelmenschenhälfte wiederzuvereinen, in ihr aufzugehen ohne Narbe oder Falz.
    Mein Leben zerfällt in die Vor-Mor-Zeit und die Mor-Zeit. Die Vor-Mor-Zeit galt mir lange Jahre wenig, sie wirkte grau wie das Mittelalter oder die Stummfilmepoche. Freunde von damals, die nicht ähnlich enthusiastisch auf Mor reagierten, wurden unauffällig fallengelassen, was mir heute, eineinhalb Jahrzehnte später, durchaus fragwürdig erscheint. Inzwischen nimmt die Vor-Mor-Zeit nämlich wieder ein bisschen Farbe an, als ob sich ihre Wangen röteten. Manchmal wirkt sie beinahe wieder interessant, wie ein staubiges, leicht anrüchiges Kostüm, das man zum Spaß noch einmal anprobieren könnte.
    Aber damals musste der Bruch sein. Mor und ich, wir krachten kosmisch zusammen, und alles musste auf der Stelle anders werden. Der Lauf der Welt wurde umgeschrieben. Wir waren zu allem entschlossen. Eine Halbheit, eine Affäre, war undenkbar. Wir taten uns zusammen und stellten uns kämpferisch-glücklich allen Umständen. Was wir vorfanden, war ja durchaus nicht unkompliziert. Aber Mor und ich, wir wachsen beide gern an den Aufgaben.
    Das hochneurotische Wesen, mit dem er damals verheiratet war, war längst durchgebrannt; als wir uns kennenlernten, wusste er seit ein paar Monaten immerhin, wo es sich ungefähr aufhielt. Die deutsche Botschaft in Neu-Delhi hatte die bulimische Zimperliese aufgestöbert, aber da sie nicht entmündigt war, durfte sie bleiben, wo sie wollte. Die Kinder waren noch klein, das kleinere war geradezu winzig, dicker Windelhintern und einen bunten Schnuller im Gesicht, dazu entwickelte es Asthma. Und Oma Anke, die fette Fregatte, war auch schon da, kurzentschlossen von Recklinghausen nach Berlin gezogen, hatte eine Wohnung gekauft und Mor unter Druck gesetzt, bis er einwilligte, die Kinder mit ihr zu teilen. Auf dass sie den Kontakt zur mütterlichen Familie nicht verlören.
    Damit habe ich später oft gehadert: Wenn Mor und ich uns nur eine Spur eher kennengelernt hätten, bei einem früheren schlechten Film … um wieviel leichter hätten wir es haben können. Keine halben Kinder, sondern bloß Besuchswochenenden für Oma Anke, die verletzlichen Kinderseelen ganz in unserer ruhigen und besonnenen Hand. Mor lächelte nur, gerührt von meinem überschießenden Stiefmutter-Engagement, und sagte nichts. Das hieß: Er hätte es trotzdem so gemacht, der Kinder wegen. Die richtig dicken Hunde kamen erst Jahre später, Oma Ankes Schandtaten (Rechtsanwälte, Jugendamt, Familiengericht) auf dem Rücken der beiden Mädchen, die selbst Mor dazu brachten, in einer depressiv-alkoholischen Nacht zu sagen, jetzt sei das Tuch zerschnitten, auf immer und ewig.
    Erst kosmisch zusammenkrachen und dann gleich ein paar verantwortungsvolle Aufgaben, Selbstbeherrschung, Vernunft und menschliche Größe angesichts einer irren Großmutter und großer, verunsicherter Kinderaugen: Das ergibt Beziehungsmörtel, der lange hält. Außenfeinde stabilisieren selbst die schlechtesten Beziehungen; unsere Beziehung aber war niemals schlecht, sondern meistens großartig, manchmal war sie schwierig, manchmal ist sie distanzierter, aber sie bleibt das, was ich immer wollte.
    Und trotzdem öffnen sich nach so vielen Jahren unversehens Spalten, in die

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