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Titel: Quellcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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dem Gehweg das Wirbeln der roten Lichter hinter sich, die seinen Schatten flackern ließen.
    Seine Hand in der Tasche des Jos.-A.-Bank-Jacketts entschloss sich dazu, ein Rize aus dem Blisterstreifen zu drücken. Er war nicht ganz einverstanden damit, schluckte es dann aber doch trocken hinunter, weil er keine einzelnen Tabletten in der Tasche haben wollte. Er sah die aufgemalten Streifen eines Fußgängerübergangs, gerade als die Ampel umsprang, und überquerte die Straße, den Blick fest auf das kecke, kleine Leuchtpiktogramm auf der anderen Seite gerichtet.
    Er lief bergauf, wo es relativ dunkel war und das Hupen des verwundeten Taurus langsam hinter ihm verklang.
    »Tut mir leid«, sagte er im Gehen zu den hohen, dunklen Häusern, die zwischen niedrigen Gewerbegebäuden aus den Vierzigern aufragten, während seine geschäftige, schlaue Hand seine eigenen Taschen abklopfte, als wäre er irgendein Betrunkener, der ihr gerade über den Weg lief. Sie nahm Bestand auf. Das Rize. Neue Brieftasche, leer. Zahnbürste. Zahnpasta. Einwegrasierer in einem Stück Klopapier. Er blieb stehen, drehte sich um und blickte den Hang hinunter zu der Straße, wo Brown versucht hatte, den IF totzufahren. Er wünschte, er wäre wieder im Best Western und könnte die Strukturdecke anstar-ren. Irgendein alter Spielfilm im Fernsehen, der Ton abgedreht, nur ein kleines bisschen Bewegung im Augenwinkel. Ein wenig, als ob man ein Haustier hätte.
    Er lief weiter und spürte die toten Fischaugen der alten Häuser auf sich, war bedrückt von dieser Dunkelheit, der Stille, den Geistern eines längst vergangenen häuslichen Lebens.
    Doch dann tauchten wie aus dem Nichts die Häuserumrisse einer anderen Straße auf, eine andere, bessere Welt, in der gespenstischen Klarheit einer schweren Halluzination. Das ziselierte, goldverkleidete Schild eines Tabakhändlers schien von innen zu leuchten, daneben eine Gemischtwarenhandlung, mehr Läden. Das Viertel aus grimmig dunklen Häusern entstand vor ihm neu, voller Unschuld, in diesem rätselhaftesten aller Augenblicke.
    Dann sah er eine Kamera herunterfahren und flüssig herumschwenken, am Ende eines Metallarms. Sie verleibte sich die hell leuchtende Vision ein und jetzt wurde ihm klar, dass es sich um eine Filmkulisse handelte, hineingebaut in die schwarze, unsichtbare Ruine einer ausgeweideten Gießerei. »Tut mir leid«, sagte er wieder und ging weiter, an den Cateringwagen und den Walkie-Talkie-Mädchen vorbei. Da fing plötzlich sein Fußgelenk an zu jucken.
    Er beugte sich vornüber, um sich zu kratzen, und fand hundertfünfzig kanadische Dollar oben in seiner Socke stecken, Überbleibsel der Glock-Expedition.
    Aber noch besser: In seiner anderen, seiner nicht schlauen Hand entdeckte er sein Buch.
    Er richtete sich auf und drückte es gegen die Wange, überwältigt von Dankbarkeit, dass er es noch hatte. Hinter dem abgegriffenen Pappeinband lebten Landschaften und Figuren. Bärtige Häretiker in Gewändern, die aus Bauernlumpen zusammengenäht und mit funkelnden Edelsteinen besetzt waren. Bäume wie riesige, tote Äste.
    Er drehte sich um und blickte zurück zu dem präzisen, unirdischen Leuchten der Filmkulisse.
    Brown würde mittlerweile weit weg sein und alles der Polizei erklären, da war er sich sicher. Im Princeton Hotel würde es garantiert ein Sandwich und eine Cola geben. Danach hätte er auch das nötige Kleingeld für den Bus oder für ein Taxi. Und dann würde er sich Richtung Westen aufmachen, in das Herz dieser Stadt, zu einer Unterkunft und vielleicht sogar zu einem Plan.
    »Quintin«, sagte er und ging zurück den Hang hinunter, auf das Princeton zu. Quintin war Schneider gewesen. Der Fleisch gewordene Gott der Libertinisten. 1547 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er in Tournay Damen von hohem Stand verführt hatte. Geschichte war etwas Sonderbares, dachte Milgrim. Zutiefst sonderbar. Im Vorbeigehen nickte er den Mädchen mit ihren aufreizend an den Hüften befestigten Funksprechgeräten zu. Schönheiten aus einer Welt, die Quintin vielleicht wieder erkannt hätte.

75. HEY, JUNGE!
    Oshosi, Pfadfinder und Jäger, war mitten im Rückwärtssalto in Tito gefahren. Er hörte, wie das graue Auto gegen den Laternenmast prallte, gerade als seine schwarzen Stiefel auf dem Gehweg aufkamen, und konnte Ursache und Wirkung nicht mehr auseinander halten. Der Orisha schob ihn im Nu nach vorn und machte seinen Körper zu einer Marionette, wie ein Kind, das eine Puppe laufen lässt. Oshosi

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