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Titel: Quellcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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das sich Milgrim nie erschlossen hatte. Ringstraßen, strahlenförmig angeordnete Avenues, Freimaurer-Gebäudekomplexe. Brown hatte dem Fahrer eine Adresse in der N Street gegeben und Milgrim erinnerte sich daran, dass ja auch Washington eine Alphabet-Stadt war, eine so ganz andere. Er war einmal drei Wochen hier gewesen, in den unschuldigen Jahren der ersten Amtszeit von Clinton, als Teil eines Teams, das russische Handelsberichte für eine Lobbyistenfirma übersetzte.
    Auf einmal bogen sie von einer belebten Einkaufsstraße mit sämtlichen Mallmarken in ein unvermutet ruhiges Viertel ab, ein reines Wohnviertel, bestehend aus kleineren und älteren Häusern. Federal Style fiel Milgrim wieder ein und auch, dass dies Georgetown sein musste. Das wusste er aus einem Kurs über Baustile, den er damals in einem Stadthaus besucht hatte. Es war den Häusern, an denen sie jetzt vorbeifuhren, ähnlich gewesen, aber größer, mit einem mauerumfassten Garten an der Rückseite. Als er sich auf einen Joint hinausstahl, hatte er dort damals eine gigantische Schildkröte und ein noch riesigeres Kaninchen entdeckt, wahrscheinlich die Haustiere der Bewohner, was ihm aber jetzt wie ein magischer Moment aus seiner Kindheit vorkam. Milgrims tatsächliche Kindheit war arm an magischen Momenten gewesen. Aber dies hier war definitiv Georgetown, diese schmalen Fassaden aus bröckelnden Ziegeln, schwarz gestrichenen Holzläden und dazu die Vorstellung, Martha Stewart und Ralph Lauren wären einträchtig am Werk, um von Natur aus edle Oberflächen in Handarbeit mit einem Überzug aus goldenem Bienenwachs zu versehen.
    Das Taxi kam plötzlich zum Stehen und die giftgelben Brillengläser des Fahrers richteten sich auf Brown. »Du hier?«, wollte er wissen.
    Sieht so aus, entgegnete Milgrim im Stillen, während Brown dem Mann ein paar gefaltete Geldscheine gab und Milgrim befahl auszusteigen.
    Milgrims Schuhe rutschten auf den Pflasterziegeln, die im Lauf der Jahre alle Kanten eingebüßt hatten. Er folgte Brown drei hohe Granitstufen hinauf, jahrhundertelang ausgetreten. Die schwarzgestrichene Tür unter einem schlichten halbrunden Fenster zierte der amerikanische Wappenadler aus frisch poliertem Messing. Er sah alt aus und wie keiner der Adler, die Milgrim jemals gesehen hatte, sondern eher wie eine Kreatur der antiken Mythologie, ein Phoenix vielleicht. Gegossen wahrscheinlich von Kunsthandwerkern, die niemals selbst einen echten Adler gesehen hatten, sondern nur Abbildungen. Brown war jetzt völlig mit einem Tastenfeld aus gebürstetem Edelstahl im Türpfosten beschäftigt, auf dem er einen Code eingab, den er von einem blauen Papierstreifen ablas. Milgrim blickte die Straße hinauf und sah auf alt getrimmte Straßenlaternen aufblitzen. Weiter vorne im Häuserblock bellte ein sehr großer Hund.
    Als Brown alle Ziffern eingetippt hatte, entriegelte die Tür sich mit einem erstaunlich metallischen Geräusch.
    »Rein!«, kommandierte Brown.
    Milgrim griff nach dem geschwungenen Messinggriff, betätigte mit dem Daumen den kleinen Hebel zum Öffnen und drückte. Die Tür öffnete sich lautlos. Er ging hinein und wusste sofort, dass das Haus leer war. Er sah eine lange Messingplatte mit den Reproduktionen alter Lichtschalter. Mit dem Finger drückte er auf das Perlmuttrund des Schalters, der der Tür am nächsten war. Über ihnen leuchtete eine Schüssel aus Milchglas auf, der Rand in Bronze mit Blumenmustern. Er sah auf den Boden. Polierter grauer Marmor.
    Er hörte, wie Brown die Tür zumachte. Das Schloss gab den gleichen Laut von sich wie zuvor.
    Brown drückte noch mehr Knöpfe auf der Messingplatte, so dass weitere Bereiche des Hauses erleuchtet wurden. Mit Martha und Ralph hatte er gar nicht so danebengelegen, bemerkte Milgrim, obwohl die Möbel nicht wirklich alt waren. Eher wie die Möbel in der Lobby eines konservativ gehaltenen Four Seasons .
    »Hübsch«, hörte Milgrim sich selbst sagen.
    Brown drehte sich auf dem Ballen zu ihm um und glotzte ihn an.
    »'Tschuldigung«, meinte Milgrim.

48. MONTAUK
    Tito saß da, die Augen fest geschlossen, in seiner Musik.
    Außer der Vibration und dem Motorenlärm gab es nichts, was auf eine Vorwärtsbewegung schließen ließ. Er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sie flogen.
    Er verharrte in der Musik, bei Oshun, die ihn über seiner Angst hielt. Und irgendwann sah er sie, als die Fluten eines Bachs, der über Kiesel hügelabwärts strömt, durch dichtes Gestrüpp. Und bemerkte einen Vogel in

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