Quellen Der Lust
und das Parlament.
Er beobachtete, wie sie mit großen Augen alles in sich aufnahm und fühlte sich, als sähe er sie zum ersten Mal mit all ihren Facetten – ihre unwiderstehliche Lebensfreude, ihre Begeisterung für alles Neue, ihre respektlose Neugier, ihr scharfer Verstand und ihre ungekünstelte Schönheit.
„Oh, St. Paul’s“, sagte sie ehrfürchtig und lehnte sich über seine Knie, um die beeindruckende Kuppel der Kathedrale ausgiebig zu bewundern. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das alles eines Tages sehen würde.“ Strahlend sah sie ihn an.
Er wandte seinen Blick ab und fühlte sich, als hätte er geradewegs in die gleißende Sonne geschaut.
Schließlich stiegen sie an einer breiten, geschäftigen Kreuzung aus, wo unzählige Männer in Geschäftsanzügen und Bowlerhüten vor den imposanten Gebäuden entlanghasteten. Dieser Anblick zauberte ein neues Leuchten in Mariahs Augen.
„Das ist also die City, das Finanzzentrum unseres Königreiches“, hauchte sie und hielt sich an seinem Arm fest, nachdem ihr vom vielen Herumdrehen schwindlig geworden war.
„Hier ist die Residenz des Bürgermeisters der City – Mansion House.“ Er zeigte auf das eindrucksvolle Steingebäude mit dem von Säulen eingerahmten Vorbau. „Und dort drüben ist die Börse. Ich dachte, Sie würden vielleicht auch gerne einen Blick auf das Gebäude der Lloyds-Versicherung werfen. Ich habe dort einen Studienfreund, der die elektrischen Stadtbeleuchtungssysteme versichert, die jetzt überall im Land installiert werden.“ Er hielt inne, als er sah, dass sie darauf zu brennen schien, ihm etwas mitzuteilen.
„Sehen Sie sich nur alle diese Männer an!“ Ihre Augen strahlten. „Natürlich hört man von den hohen Einwohnerzahlen, aber ich konnte mir bisher nie so viele Männer an einem Ort vorstellen. Große, kleine, junge, alte, reiche … und noch reichere.“
Er fühlte sich – und sah so aus –, als habe sie ihm einen Keil ins Herz gestoßen.
„Hier entlang“, brachte er mühsam heraus und zog sie in die Richtung von Lloyds.
So begann ein langer Tag von Erklärungen, Kutschfahrten und Besichtigung der Sehenswürdigkeiten, von denen Mariah nie gedacht hätte, dass sie sie eines Tages leibhaftig sehen würde: die Börse, der Tower, die Waterloo Bridge, Westminster und das Parlamentsgebäude. Wohin sie auch kamen, Mariah zog überall die Aufmerksamkeit auf sich. Männer unterbrachen ihre Arbeit in Büros oder zogen ihre Hüte, wenn sie vorüberging. Je mehr Interesse ihr bekundet wurde, umso distanzierter wurde Jack. Und je mehr er sich zurückzog, umso demonstrativer verfolgte sie ihre Heiratsmission.
„Die Herren am Tisch hinter Ihnen starren mich schon die ganze Zeit an“, sagte sie, als sie zu Mittag aßen. „Äußerst elegant geschnittene Anzüge. Seidene Krawatten und goldene Taschenuhren.“ Sie senkte die Stimme. „Ich würde alles darauf verwetten, dass sie an den besten Privatschulen ausgebildet wurden.“
„Soll ich rübergehen, um mich nach ihrem jährlichen Einkommen zu erkundigen und ihre Jacketts auf Suppenflecken zu untersuchen?“, fragte Jack, sichtlich verärgert.
„Ja, bitte.“ Sie warf den Männern ein schüchternes, sittsames Lächeln zu. „Und erkundige dich doch auch gleich nach den Namen einiger Damen, die mir als Referenz dienen könnten.“
Er ließ seine Gabel auf den Teller fallen. „Könnten wir ein einziges Mal zivilisiert zusammensitzen und ungestört essen, ohne dass du auf der Jagd nach einem Gespielen bist?“, sagte er scharf.
„Mich wundert es, dass Sie das stört“, erwiderte sie mit unerschütterlichem Gleichmut. „Vor allem, da doch auch Ihr zukünftiges Schicksal davon abhängt, für mich einen ‚Gespielen‘ zu finden.“
Jack verschlug es die Sprache. Das hatte ihn offensichtlich getroffen.
„Das ist keine Pflicht, die ich gerne erfülle“, brach es aus ihm heraus. „Und du machst mir diese Aufgabe noch schwerer durch deinen ungebührlichen Enthusiasmus.“
Mariah sah ihn forschend an. Sie wusste genau, was ihn so über alle Maßen irritierte und war fest entschlossen, ihm seine Aufgabe nicht im Geringsten zu erleichtern.
„Erst bin ich zu widerstrebend und zu wählerisch, dann zu eifrig und zeige ‚ungebührlichen Enthusiasmus‘. Entscheide dich, Jack. Soll ich nun einen Mann finden oder nicht?“ Sie beobachtete, wie er innerlich mit sich selbst kämpfte.
„Ich glaube, ich habe meine Meinung dazu klar und deutlich geäußert.“
„Stimmt.
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