Querschläger
ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, was es ist.« Ihre Finger zupften ärgerlich an der leeren Folie, in die der obligatorische Zimtkeks, den es zum Cappuccino gab, eingepackt gewesen war. »Ich habe das Gefühl, dass es ganz dicht an der Oberfläche ist, aber immer, wenn ich danach greifen will, zieht es sich wieder in die Tiefen meines Unterbewusstseins zurück.«
»Hat es vielleicht was mit Beate Soltau zu tun?«, fragte Carola Mahler.
Karen Ringstorff starrte ihre Freundin entgeistert an. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Carola Mahler. »Es war einfach ein spontaner Einfall von mir. Vermutlich, weil dich diese Schuldgefühle plagen und …«
Karen Ringstorff wedelte abwehrend mit der Hand durch die Luft. »Warte, warte, warte … Es …« Sie griff zerstreut nach der Speisekarte und dachte einen Moment lang angestrengt nach, dann schüttelte sie resigniert den Kopf. »Nein, ich glaube, es war etwas anderes … Irgendwas, das sie gesagt hat.«
»Das wer gesagt hat?«, insistierte ihre Freundin.
»Dieses Mädchen. Mareike Gruner.«
»Wer ist Mareike Gruner?«
Karen Ringstorff lächelte bitter. »Die Kleine, die mein Leben gerettet hat.«
»Oh, na sicher, tut mir leid.« Carola Mahler hob entschuldigend die Hände. »Aber du weißt ja, dass ich mir einfach keine Namen merken kann.«
»Jaja, schon gut.« Karen Ringstorff schloss entnervt die Augen. Ich sollte mich bei Frau Soltau melden. Im Geiste sah sie das dauerversehrte Mädchen, das sich ungeschickt ein zerknülltes Papiertaschentuch auf seine blutende Fleischwunde presste. Aber die war nicht da, und da dachte ich … Karen Ringstorff stutzte. Da war die Tür des Lehrerzimmers. Im Nacken Heribert Scherer, dem bereits das Kinnwasser läuft bei der bloßen Aussicht, dieses hilflose junge Ding zum Erste-Hilfe-Kasten am Ende des Flurs zu begleiten. Kann man vielleicht helfen ? Darauf ein »Nein«, zweistimmig, entschlossen, unisono. Und dann der Flur, lang, grau, übersichtlich. Schutzloses, nacktes Terrain. Mareike Gruner, die wortlos neben ihr her trottet. Auf der gegenüberliegenden Seite das Büro des Direktors. Das Sekretariat. Beide Türen geschlossen. Und … Ja, genau! Das war es! Karen Ringstorff riss die Augen auf. »Das Schild«, stieß sie hervor.
Carola Mahler runzelte verständnislos die Stirn. »Was für ein Schild?«
»Beate Soltaus Schild«, entgegnete Karen Ringstorff aufgeregt. »Sie hatte so ein selbstgemachtes Schild, verstehst du? Ich sehe es noch vor mir: Bin gleich zurück, stand da drauf, oder zumindest etwas in dieser Richtung. Und daneben war ein lachendes Gesicht, du weißt schon, eine von diesen fertigen Grafiken, die man sich in seine Dokumente kopieren kann. Sie war in diesen Dingen ja immer so wahnsinnig gewissenhaft und …«
»Hey, Augenblick. Ich verstehe kein Wort«, fiel Carola Mahler ihrer Freundin ins Wort. »Wovon zur Hölle redest du?«
»Von dem Schild, das Beate Soltau außen an ihre Tür gehängt hat, wenn sie während der Bürozeiten irgendwohin musste«, entgegnete Karen Ringstorff. »Damit etwaige Besucher wissen, dass sie sich einen Moment gedulden müssen.«
»Okay«, sagte Carola Mahler. »Das habe ich inzwischen kapiert. Aber was war denn mit diesem Schild?«
Karen Ringstorff starrte gedankenverloren vor sich hin. »Ich weiß nicht, warum«, sagte sie schließlich. »Aber ich bin mir sicher, dass das besagte Schild am Dienstag nicht an der Tür zum Sekretariat hing …«
3
Verhoeven hielt an einer roten Ampel und dachte an die beiden ungenutzten Zimmer unter dem Dach seines Hauses, in denen sich nun Madeleine Leonidis’ vortreffliche Kinder tummelten. Pierre, Pascal, Phillip und Paola, die allesamt nach ihrem adonishaften Vater kamen und wie das Personal eines Werbespots für griechische Lebensart wirkten. Besuchen Sie die Akropolis, bevor sie endgültig in sich zusammenfällt!, dachte Verhoeven sarkastisch, während er inständig hoffte, dass Madeleines hochbegabte Sprösslinge von seinem Haus mehr als einen Haufen Ruinen übrig lassen würden.
Neben ihm verrenkte sich Winnie Heller beinahe den Hals bei dem Versuch, sich mit seiner Tochter zu unterhalten, etwas, das zu Verhoevens Erstaunen beiden Beteiligten Spaß zu machen schien. Natürlich wusste er, dass Nina einen ausgesprochenen Narren an seiner Kollegin gefressen hatte, obwohl die beiden einander bislang nur ein einziges Mal begegnet waren. Aber was Winnie Heller anging, war er sich nicht so
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